Ansgar Kreutzer: "Realität und Vision brauchen einander"
Univ.-Prof. Dr. Ansgar Kreutzer, Professor für Fundamentaltheologie an der Katholischen Privat-Universität Linz, zeichnete in seinem Vortrag theologische Perspektiven der Kirche, sogenannte „Innenbilder“ – also den Blick der Kirche auf sich selbst in Ergänzung zur Außenwahrnehmung, wie Markenexperte Franz Hirschmugl sie zuvor in seinem Impulsreferat geschildert hatte.
Kreutzer plädierte dafür, die theologische Ebene mit alltagspraktischen Dingen zu verbinden. Wie Franz Hirschmugl ortet auch Kreutzer eine zunehmende Individualisierung, die er als „Megaprozess unserer Zeit“ bezeichnet: „Die Selbstbestimmtheit und Selbstermächtigung nimmt deutlich zu, auch im Bereich der Religion. Der einzelne Mensch fühlt sich als letzte Instanz, über seinen Glauben zu richten, und lässt sich das nicht mehr von einer Institution vorschreiben.“ Diesem Megaprozess müsse sich die Kirche aussetzen, stellte Kreutzer klar.
Ausgehend von einem Zitat aus der Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962 – 1965), entfaltete der Fundamentaltheologe eine theologische Sichtweise, wonach die Herausforderung daraus bestehe, das Göttliche und das Irdische an Kirche zusammenzudenken und nicht auseinanderzudividieren: „Kirche ist eine Institution, aber auch der geheimnisvolle Leib Christi. Kirche ist eine Struktur, ein Unternehmen, aber auch eine spirituelle Größe, zu betrachten aus soziologischer UND theologischer Sicht, sie ist Kirche IN der individualisierten Gesellschaft.“
Kreutzer nannte als inspirierendes Bild des Zweiten Vatikanischen Konzils die Kirche als Communio, bei der die Gemeinschaftlichkeit im Glauben die theologische Idee ist („Ein Christ ist kein Christ“). Die Herausforderung dabei liege in der Balance zwischen Ich und Wir, so Kreutzer: „Jeder Mensch hat Individualität, die aufgeht in einem Wir, ohne dass dabei die Individualität völlig verlorengeht.“ Dieser Gedanke passe gut zur „posttraditionalen Gemeinschaft“ in der Gesellschaft, die durch eine Suchbewegung zwischen Individualität und Gemeinschaftlichkeit gekennzeichnet sei. Kreutzer wörtlich: „Traditionelle Institutionen wie das Dorf, die Familie, die Großfamilie verlieren an Bedeutung. Wir sind EinzelgängerInnen geworden, die aber gleichzeitig anlehnungsbedürftig sind, wie SoziologInnen betonen.“ Die Herausforderung für die Kirche nach Kreutzer: „Wir müssen die Individualität und Selbstermächtigung der Menschen ernstnehmen. Das bedeutet: Wir müssen die ‚Kirchenfernen‘ dort lassen, wo sie sind: in der – für uns – Kirchenferne. Sie gehen ihren eigenen Weg des Glaubens, das ist zu respektieren. Wir müssen die Ehrenamtlichen als selbstbewusste, selbstdenkende Menschen wahrnehmen, die Verantwortung haben. Wir brauchen eine positives Bild von den Laien und dürfen keine Strukturmaßnahmen setzen, in denen Laien eine ‚Lückenbüßer-Funktion‘ übernehmen.“
Kreutzer wies auf ein zweites Bild des Vatikanischen Konzils hin: Kirche als Volk Gottes, das ebenfalls auf zwei Ebenen zu sehen sei, weil es einerseits um eine empirische Größe gehe, andererseits um eine religiöse Größe. Das Anliegen hinter diesem Bild war nach Kreutzer die grundlegende Gleichheit aller Glaubenden, die Betonung der Berufung aller Menschen (und damit Kirche weit zu denken) und die politische Dimension von Kirche, die sich in der Solidarität mit Armen und Leidenden zeigt. Die heutige Gesellschaft, die vor zahlreichen Herausforderungen stehe, brauche Werte-Gemeinschaften wie die katholische Kirche, die sich für bestimmte Ziele einsetzten und die mit einer starken institutionellen Infrastruktur ausgestattet seien. „Der Glaube ist nur dann in der Gesellschaft präsent, wenn er eine starke institutionelle Verankerung hat, wie das etwa bei der Caritas oder bei den Pfarren der Fall ist“, ist Kreutzer überzeugt. Kirche müsse sich daher auf diese politische Dimension einlassen und sich politisch verstehen – „auf gar keinen Fall staatspolitisch und auch nicht parteipolitisch, aber als zivilgesellschaftliche Institution mit politischen Optionen.“ Die Herausforderung aus der Sicht des Fundamentaltheologen: Die Kirche muss kampagnenfähig werden und darf sich verstehen als ‚Bürgerinitiative des Heiligen Geistes‘.“
Univ.-Prof. Dr. Ansgar Kreutzer referierte über "Innenbilder" von Kirche. © Diözese Linz / Mayr
Ausgehend von Cervantes‘ Romanfigur „Don Quichote“, der „Ritter von der traurigen Gestalt“, der als romantischer Idealist in seinem Kampf gegen Windmühlen aus der Welt gefallen wirkt, und dessen Begleiter Sancho Panza, der als skeptischer Realist auftritt, plädiert Kreutzer für ein „Dulcinea-Kirchenbild“. Dieser Begriff wurde vom tschechischen Soziologen, Religionsphilosophen und Theologen Tomáš Halík geprägt. Dulcinea wird von Don Quichote als vornehme Dame wahrgenommen, von Sancho Panza als derbe Magd – und doch handelt es sich um ein und dieselbe Person. Das Dulcinea-Kirchenbild von Halík meint analog dazu, dass es nur eine Kirche gibt, die aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wird. Es gilt also, sowohl das zu sehen, was Kirche sichtbar ist, als auch die Vision, also den Anspruch, was Kirche sein könnte: „ein Symbol und gleichzeitig Werkzeug der Einheit aller Menschen und Völker in Christus, das aber innerhalb der Geschichte nicht vollendet werden kann“, wie Halík es formuliert.
Ansgar Kreutzer äußerte für den Zukunftsweg den Wunsch, „dass für die pragmatische, skeptische Perspektive und für die visionäre, träumende Perspektive Platz ist, dass beide aufeinander hören und sich nicht ausschließen – denn in Wahrheit brauchen sie einander.“