Europa - die erfolgreichste Idee im 20. Jahrhundert
Der Erste bringt es auf 50 Millionen Tote. Der Zweite ist weithin vergessen, aber seine Europavision war die „erfolgreichste Idee im 20. Jahrhundert“, so Otto Habsburg. Es lohnt, ihre Konzepte zu vergleichen.
Sieben Jahrzehnte Frieden
Wie ein kleiner Schneeball eine Lawine auslösen kann, so bewegte das schmale Büchlein „Paneuropa“ 1923 im guten Sinne die Weltgeschichte. Aber nicht von selbst. Damit das Konzept aufgegriffen wurde, war für die Paneuropäische Union ein halbes Jahrhundert nötig. So lange setzte sich Coudenhove bis zu seinem Tod am 27. Juli 1972 für das Werden von Paneuropa ein. Und wir verdanken ihm und den Politikern 69 Jahre Frieden. Das ist für Europas Geschichte unvorstellbar lang.
Coudenhove hasste den Krieg und wollte unter Nachbarländern zivilisiert Konflikte lösen. Wie belastend ist ein Leben im Streit mit Nachbarn. Man muss einander ja nicht gleich umarmen – nicht einmal aus Nächstenliebe. Auch diese braucht geordnete Selbstliebe. Aber Nachbarn und Nachbarvölker zu beschimpfen, schafft Feindschaft. Besser ist, sich in andere hineinzudenken und auch Eigeninteressen anzusprechen.
Das größere Ganze
Coudenhoves Idee war: Nicht die Grenzen zu verschieben, was Hitler ab 1938 tat, sondern Länder mit strittigen Grenzen einvernehmlich in ein größeres Ganzes, in Europa einzubetten. Auf diese Weise wurde kürzlich ein Konflikt zwischen Kroatien und Slowenien beigelegt. Und der Balkan hat eine Chance auf Frieden, wenn seine Grenzfragen im größeren Europa aufgehen.
1924 fürchtete Coudenhove: Wenn Europa keine Einheit wird, wird es eine Kolonie Amerikas oder von Russland überrollt. Seine Kernidee: „Das Europa der Kleinstaaten muss zu einer politischen und wirtschaftlichen Union zusammenfinden“, um in der Weltpolitik Gehör zu finden, aber sich von der Zukunft Amerikas und Chinas unterscheiden.
Politik stellt die entscheidenden Weichen
Leider trat das Befürchtete ein: Der Zweite Weltkrieg. Immer wieder war Europa ein Kontinent der Kriege: Das Reich Karls des Großen wurde im Jahr 843 dreigeteilt – der westliche Teil wurde Frankreich, der östliche Deutschland. Aber um das Land dazwischen – es waren Regionen am Rhein, die alten Niederlande und Elsass-Lothringen – gab es endlos Konflikte. Das ging 1.100 Jahre hin und her – oft kriegerisch wie 1871, 1914, 1945.
Aber Coudenhove – im Exil in Amerika – ließ nicht locker und trug zum Entstehen des Europa-Parlaments bei. Er regte an, die Zölle abzuschaffen, er war für eine gemeinsame Währung und schuf wichtige Europasymbole.
Endlich machten drei Staatsmänner Schluss mit der ewigen Feindschaft und schoben 1952 mit der Montan-Union der kriegslüsternen Schwerindustrie einen Riegel vor: Robert Schuman, Alcide de Gaspari und Konrad Adenauer setzten auf Vorschlag von Jean Monnet den entscheidender Schritt für ein friedliches Kerneuropa.
Wirtschaften mit sozialem Anspruch
Coudenhoves Ziel war ein Europa allein der Europäer. Doch es kam anders: Westeuropa verbündete sich in der NATO mit Amerika. Coudenhove sah darin eine Schwächung des Europagedankens. Europa sollte für sich stehen. Damals sagte er zur Frage, wohin England gehöre: „Wenn möglich mit England, wenn notwendig ohne England, nie gegen England“. England lässt in einiger Zeit über die EU-Mitgliedschaft abstimmen; England und die USA sind einander in Finanzpolitik ähnlich. Vor allem die USA verstehen „freie Marktwirtschaft“ viel radikaler als die meisten Europäer.
Deutlich ist, was Coudenhove zur Getreide-Spekulation schrieb: Er sprach sich gegen die Bildung von Trusts aus, die nur dazu dienten, „um die Preise lebenswichtiger Waren hinaufzutreiben“ und dagegen, „daß Getreidehändler mit Brot spekulieren. Daß Waffenhändler Millionen darauf verwenden, die Nationen gegeneinander zu hetzen ... All diese Mißbräuche des Kapitalismus soll der demokratische Staat mit starker Hand verhindern.“ (Totaler Mensch – Totaler Staat, Wien 1965)
Das Erbe engagierter Politiker
Die politischen Gründerväter Europas orientierten sich an den Ideen von Coudenhove. Schuman, Adenauer, de Gaspari waren überzeugte Katholiken. Und alle drei sprachen Deutsch: Schuman war als Lothringer in der Kindheit Deutscher und de Gaspari war als Südtiroler Österreicher gewesen.
Die christlich-jüdische soziale Botschaft tritt gegen die Übermacht und das Recht des Stärkeren auf. Coudenhove sagt: „Die Geschichte kennt zwei große Revolutionen der Brüderlichkeit: den frühen Buddhismus und das frühe Christentum. Nun scheint die Zeit reif für eine dritte Revolution der Brüderlichkeit.“ Der neue Menschentyp – auch in der Politik – sollte für ihn ein Gentleman sein, „nicht Politiker, die Verträge brechen, Freunde verraten, Wehrlose überfallen und größtenteils Gangster sind.“
Wir brauchen ein europäisches Projekt, das die Jungen begeistert, sie mobilisiert, ihnen den Glauben an die Zukunft schenkt. Wir brauchen in Europa Wurzeln und Flügel.
Dr. Hans Högl
Der Autor ist Sozialwissenschaftler und Hochschulprofessor i.R.