Mehr Freude am Sex als ganzer Mann
Warum fühlen wir uns peinlich berührt, wenn jemand offen über Sexualität spricht?
Christoph Walser: In der sexuellen Erziehung lernen wir von klein auf, welches sexuelle Verhalten gesellschaftlich nicht korrekt ist und deshalb nicht öffentlich benannt wird. Wenn dann jemand sehr offen über das heikle Thema redet, können wir das als peinlich empfinden, auch wenn wir uns selbst als aufgeschlossen sehen. Kürzlich hat mir eine Frau dazu etwas Typisches erzählt. Sie war bei einer Freundin, als der kleine Vierjährige ein paar Mal durch die Hose an den Penis griff. Die Mutter schämte sich heftig deswegen und wies ihn mehrmals zurecht. Es braucht gesellschaftlich Anstandsgrenzen, auch in der Sexualität. Aber der Junge tat eigentlich nichts Schädliches, sondern zeigte seine Freude am männlichen Geschlecht. Die Mutter beschämte ihn. Und ihre verbietende Stimme wird ihn in seinem zukünftigen Sexualleben beeinflussen.
Ist dieses Tabu nur ein Phänomen unserer westlichen Kultur, oder gibt es das anderswo auf der Welt auch?
Christoph Walser: Auch in anderen Kulturen gibt es Tabus in der Sexualität. Viele Männer in unseren Breitengraden wurden mit enger christlicher Moral erzogen. Selten aber wurde ihnen eine Spiritualität vermittelt, welche Sexualität als Lebenskraft und Geschenk wahrnimmt und feiert. Insbesondere durch die dualistische neuplatonische Philosophie, die den Kirchenvater Augustinus im 4. Jahrhundert sehr beeinflusste, wurde mehr und mehr aufgespalten zwischen Spiritualität, die nach oben ausgerichtet, rein und unschuldig war und Sexualität, die man als unrein in den unteren Sphären des Körpers sah. Dies führte zu einer Moral nach dem Motto: Weg von Sex führt zu Gott, Sex führt von Gott weg. Es war der Versuch, die innere Freiheit des Menschen gegenüber dem Totalanspruch von Sexualität zu stärken. Man hat sich damit aber eine sehr problematische Aufspaltung von Sexualität und Spiritualität eingehandelt. Deshalb sind viele Männer mit falschen Scham- und Schuldgefühlen in ihrer Sexualität belastet.
Im Zölibat der katholischen Priester wurde dies aber festgeschrieben. Kann ein Mann, der zölibatär lebt, auch eine gesunde integrierte Sexualität haben?
Christoph Walser: Die Aufspaltung „je weniger sexuell, umso spiritueller bin ich“ ist auch für Zölibatäre ungesund. Aus sexologischer Sicht ist vor allem der Pflichtzölibat bei Männern bis ins mittlere Alter problematisch. Für die sexuelle Entwicklung ist es wichtig, sich in der Sexualität vielfältig zu erfahren. Wenn dies zu früh limitiert wird – und das ist auch bei Laien durch andere Einflüsse oft der Fall – so wird eine elementare Quelle der Lebenskraft zum Versiegen gebracht. Integrieren wie auch sublimieren kann man Sexualität erst, wenn man sie kennt.
Was ist von Statistiken zu halten, die wir ab und an in den Medien finden: Wer wann wie oft Sex hat und mit wie vielen Partnerinnen?
Christoph Walser: Das sind meistens Kurzumfragen zur Erheiterung der Leserschaft mit wenig empirischem Wert. Es werden Wunschbilder produziert. Solche Statistiken verstärken höchstens den Druck bei Männern, einem Bild entsprechen zu müssen. Sie verschärfen die Diskrepanz zwischen leistungsorientiertem Sex und der vielfältigen sexuellen Realität von Männern.
Ohne Superman-Gehabe und Weltmeisterstatistiken: Wie lässt sich das Sexualleben eines durchschnittlichen Mannes in unseren Breitengraden sachlich beschreiben?
Christoph Walser: Die beschleunigte Arbeitswelt prägt heute alle Alltagsbereiche. Männer haben vor allem zu wenig Zeit und Muße, sich ganzkörperlich auf Sexualität einzulassen. Wenn, dann geschieht es oft mal so schnell zwischendurch, mit eher wenig Wahrnehmung und Lust, allein oder zu zweit. Wir sind im Alltag sonst darauf getrimmt, in einem Druckmodus zu funktionieren. Im Lustmodus zu leben, auch in der Sexualität, braucht hingegen Freiraum und Zeit. Viele Männer wünschen sich einfach mehr Freude am Sex als ganzer Mann.
Was sind Elemente, um als Mann eine befriedigende und gesunde Sexualität zu entwickeln?
Christoph Walser: Sexualität ist ein lebenslanger Lernprozess. Tipps bringen wenig, zu individuell ist jedes Männerleben. Am Anfang steht für mich die staunende Wahrnehmung für das Geschenk von Sexualität und Sinnlichkeit in unserem Leben. Wie unglaublich schön es ist, uns selbst und andere mit den fünf Sinnen zu erleben, wie wir uns und andere in der Körpermitte erregen und diese Erregung mit Bewegungen, Rhythmus, Atem, Anspannung und Entspannung steigern und zu ganzkörperlicher Lust und Freude ausweiten können. Und dass diese Lust es ist, die auch zum Segen der Fruchtbarkeit führt, die so vielen Männern ermöglicht, neues Leben zu zeugen. In der Dankbarkeit für die sexuelle Potenz wächst auch das Interesse, weiter zu lernen. Dabei schließen sich sexuelle und spirituelle Schlüsselfähigkeiten gerade nicht aus, sondern verstärken sich gegenseitig: bewusst atmen, präsent sein, offen kommunizieren, aufmerksam wahrnehmen und dem Fluss des Lebendigen folgen. Es geht darum, eine männliche Kultur der umfassenden Wertschätzung von Sexualität zu fördern. So gelebte männliche Sexualität ist verantwortungsvoll in Beziehungen und gesund und befriedigend zugleich.
Christoph Walser
Männercoach, Theologe, Sexualberater, Dozent in Luzern, freiberuflich tätig in den Bereichen Männerarbeit, Genderfragen, Spiritualität und Prävention