Dem ganzen Leben auf der Spur
In den letzten Jahren haben aber immer wieder Männer den Mut gefunden, sich der umfassenden Wirklichkeit ihres Lebens zu öffnen und für Tabus eine Sprache zu finden. Sie sind damit sich selbst und auch den Frauen nähergekommen. Dem halbierten Mann begegnen unsere Frauen mit Vorsicht. Dem ganzen Mann öffnen sie sich mit mehr Liebe, Vertrauen und Erotik.
Der öffentlich weniger bekannte, ganze Mann hat ein reiches Innenleben mit vielen Gedanken, Sorgen, Begabungen und Schwächen, Süchten und Sehnsüchten. Das Sichtbarwerden des intimen Männerlebens ist aber kulturell tabuisiert. Der private Mann soll unsichtbar bleiben.
Ich greife nun sieben Bereiche heraus, die im üblichen Männerbild kaum vorkommen. Die Tür zu einigen verschwiegenen Männerthemen soll also geöffnet werden.
1. Unsere Abkunft von Vater und Mutter, unser Verhältnis zu Geschwistern
Ein Leben lang ist der Mann ein Sohn. Der Sohn einer Mutter und zuweilen ein Leben lang mit einer inneren Abhängigkeit von der Mutter oder in einer belastenden Auseinandersetzung mit dem Vater.
Vermutet der Mann, den Vater hinter sich gelassen zu haben, taucht er in besonderen biographischen Situationen plötzlich innerlich vor einem auf: bei der Geburt eigener Kinder, in beruflichen Konflikten, in Pensionierungsvorgängen usw. Das zwingt zu erneuter Auseinandersetzung. Das Verhältnis zu Brüdern oder Schwestern ist nicht selten konflikthaft und unfrei. Es gibt die lebenslange Störung eines Männerlebens durch einen Bruder oder eine Schwester – oft ohne Aussprache und also tabuisiert.
2. Unsere Kinder
Männer lieben ihre Kinder, aber sie haben für sie zu wenig Zeit. Das Aufwachsen ihrer Kinder können sie wegen fordernder Berufsarbeit nur unzureichend wahrnehmen. Das ist einer der heiklen Bereiche in einem Männerleben: unser naturgegebenes Fortpflanzungsbedürfnis, die innigen Gefühle dem Neugeborenen gegenüber, unser Beschützungsinstinkt – und dann die Vernachlässigung der Kinder. Hier ist vieles verschwiegen, auch unsere Sorge, wenn sich Kinder anders entwickeln als wir es uns wünschen.
3. Unsere sexuelle Energie
Täglich mehrmals verspürt der Mann erotische Gefühle und sein sexuelles Bedürfnis nach der Frau. Das Sexualhormon Testosteron hält uns lebendig und stark sind die sexuellen Wünsche. Manche verspüren einen Drang zu strafbarem Handeln an beruflich Abhängigen oder gar an Kindern.
Was nicht mehr verschwiegen werden muss: Zu einem Männerleben gehört es, sich selber Lust zu machen, den sexuellen Hunger zu stillen. Dies entlässt den Mann beruhigt für einige Stunden und entlastet die Beziehung zur Frau vor sexueller Bedrängnis.
Und zu erwähnen ist, weil es möglicherweise auch mit unserer sexuellen Energie zusammenhängt, die hilflose Wut, die zum Schlagen führt – der Kinder, der Frau. Gegen den sexuellen oder beruflichen Frust oder gegen Ohnmachtsgefühle in Konflikten neigen manche Männer dazu, mit Gewalt zu reagieren, um sich wieder stärker zu fühlen. Das ist schlimm, dazu darf es nicht kommen, verbleibt aber ungelöst im verschwiegenen Bereich der Familie.
4. Unsere gesundheitlichen Probleme
Der Mann weiß vor allem im vorgerückten Alter um seine gesundheitlichen Probleme. Er hat Bluthochdruck, Herz-Rhythmusstörungen, Schwindelgefühle, Gelenkschmerzen. Er ist oft übergewichtig, die sportliche Betätigung ist unzulänglich, der regelmäßige Kontakt zum Hausarzt bzw. zur Vorsorgeuntersuchung mangelhaft. Viele Männer verschweigen sich – auch ihrer Ärztin und ihrem Arzt gegenüber. Sie wollen ja stark und vital sein. Das ist riskant und mancher stirbt plötzlich und viel zu früh.
5. Unsere Süchte
Viele Männer haben Süchte. Sie rauchen oder trinken zu viel, spielen in Casinos, spekulieren mit Geld, brauchen immer wieder Frauen, arbeiten über die Maßen oder essen zu viel. Es ist die Beschränktheit unserer irdischen Existenz, die durch Süchte auszugleichen versucht wird. Und dazu kommt mancher Schicksalsschlag, manche Demütigung, was nicht selten zu einer ungesunden Reaktion verführt – am häufigsten zum Alkohol.
Wie wäre es mit einem kontrollierten Suchtprogramm – eine Sucht in Maßen, auf niedrigem Niveau stabilisiert? Einmal im Monat betrunken zu sein, geht vielleicht, wöchentlich geht nicht. Täglich 2/4 Wein geht vielleicht, ein Liter ist sicher zu viel. 60 Zigaretten am Tag sind zu viel, 10 gehen vielleicht. Allerdings hin und wieder gibt man es sich voll, man will über die Grenzen – betrinkt sich, sucht eine Frau. Der Absturz danach macht weiser. Alle Kulturen kennen solche Exzesse.
6. Die Religion
Religion ist bei nicht wenigen Männern wie ein eingezwickter Nerv. Angst vor Schwäche bestimmt das Verhältnis zur Religion. Die Hinwendung zu Gott ist geprägt von einer Einengungsangst. Gott wird als Rivale empfunden, der die männliche Kraft hemmt. Religiös-sein als Stärke zu verstehen, ist kaum vorgesehen. Doch manche sind Mystiker, aber darüber schweigen wir besonders. „Ich habe Gott gespürt" oder „Jesus ist mein Vorbild" gehören nicht zum Sprachschatz von Männern.
7. Unsere Vergänglichkeit
Mit der Vergänglichkeit des Lebens und der Alterung ihres Körpers tun sich Männer schwer. Sie stürzen den Mann in eine unruhige Ängstlichkeit. Die sexuelle Potenz lässt nach. Dazu kommt der Bedeutungsverlust durch Pensionierung. Der ältere Mann ist kulturell nicht mehr relevant. Die Alterung ist aber unaufhaltsam. Nicht darüber zu reden ist allerdings auch kein wirksames Mittel dagegen.
„Gott will mich und er will mich für immer!"
Was hilft, wenn wir uns diesen Tabus stellen? Anerkennen, was ist – also Bemühen um Gelassenheit. Es gibt eine Gelassenheit durch Resignation. Diese hilft nicht. Und es gibt eine Gelassenheit aus Glauben, die uns weiterführt. Es ist der Glaube, dass Gott mich wollte, dass er in der Zeugung meine Seele, mein Ich zu den verschmelzenden Genen hinzu gab. Meditieren Sie einmal, warum gerade Sie auf der Welt sind!
Und dann ist es der Glaube an die Vorsehung, die unsere Lebensbewegung begleitende Gnade. Wir werden des Weges geführt, den wir gehen. Gott nimmt uns mit sich mit, damit wir zu ihm heimfinden.
Lassen Sie diesen Glauben immer tiefer in sich einsickern. Nützen Sie Wartezeiten im Supermarkt, auf einer Busstation, an Ihrer Arbeitsstelle, um in diesen Minuten den Satz in Ihre Seele hinabgleiten zu lassen: „Gott will mich und er will mich für immer!"
Sie könnten sich dafür auch täglich eine Zeit zum Beten nehmen. Wenn Sie beten, fällt jedes Tabu von Ihnen ab. Vor Gott ist der einzig tabufreie Raum. Vor ihm können Sie alles von sich ausbreiten. Und Sie werden wachsen im Glauben, in der Liebe, in der Hoffnung – und in der Selbstachtung.
Wilhelm Achleitner. Der Autor ist Direktor des Bildungshauses Schloss Puchberg (Wels) und Mitglied im KMB-Diözesanausschuss der Diözese Linz.