Gefährliche Jagden
Das Bild des Sündenbocks geht auf einen Ritus im Alten Testament (Lev 16) zurück. Darin legt der Hohepriester die Sünden des Volkes auf das Haupt eines Ziegenbockes, bevor dieser in die Wildnis verstoßen wird. Am intensivsten hat sich vermutlich der Kulturanthropologe René Girard mit dem Phänomen auseinander gesetzt. Seine erste wichtige Einsicht ist, dass es sich um ein unbewusstes Geschehen handelt. Wir sprechen heute von einem Sündenbock, wenn eine Gruppe selbst glaubt, dass dieser allein die Ursache aller Probleme sei, obwohl die Gruppe ihm oder ihr nur fälschlich alle Verantwortung in die Schuhe schiebt.
Biblische Solidarität mit den Opfern
Eine zweite Einsicht Girards ist noch wichtiger: Diese erkennt in den biblischen Schriften die Aufdeckung des Sündenbockmechanismus. Während archaische Mythen auf der Seite des Mobs stehen und die „Schuld“ des Sündenbocks bestätigen, solidarisieren sich die wichtigen biblischen Texte mit den Opfern. Die Passion Jesu Christi ist dafür ein Beispiel.
Wer sind nun nach Girard typische Sündenböcke? Einerseits kann fast jeder oder jede zum Opfer werden. Andererseits zeigt sich, dass schwache Menschen, wie z. B. Fremde, Kinder oder auch Frauen oft zu Sündenböcken werden; ebenso aber auch mächtige Herrscher. Wer immer zu sehr aus der Gruppe heraus sticht, riskiert, zum Fokus einer Gruppenentrüstung zu werden. Am Beginn der Zivilisation wurden vermutlich Frauen häufiger als Männer zum schwarzen Schaf gestempelt. Gewisse Anzeichen deuten darauf hin, dass sich dies umzukehren beginnt.
Jagd auf Sündebockjäger
Unsere moderne Kultur scheint von der Jagd auf Sündenböcke zur Jagd auf Sündenbockjäger übergegangen zu sein. Dies ist eine gefährliche Tendenz, die letztlich dem biblischen Geist der Vergebung entgegensteht. Heute müssen wir sowohl die alten patriarchalen Sündenbockjagden hinter uns lassen als auch der Tendenz widerstehen, uns selbst durch die Jagd von Sündenbockjägern rein zu waschen. Alle Umkehr zu Gerechtigkeit, Frieden und Geschwisterlichkeit muss immer schon bei uns selbst beginnen. Nur so können wir uns vom Angewiesensein auf Prügelknaben befreien.
Wolfgang Palaver. Der Autor ist Professor für christliche Gesellschaftslehre an der Universität Innsbruck.