Keine Idylle an Europas Urlaubsstränden
Der Sommer kommt und mit ihm die Freude auf Urlaub und Erholung, für viele an den Stränden in Europas Süden: abschalten von den Sorgen des Alltags, relaxen und die Seele baumeln lassen. Der reiche Norden erholt sich hier von den Strapazen, die ihm die Bereitstellung seines Reichtums das Jahr über beschert. Die All-inclusive-Freizeitindustrie beherrscht die Szene mit Pauken und Trompeten, ehe sie im Herbst eine ausgelaugte und ermattete Landschaft zurücklässt.
Grenzwall gegen die Armut
Europas Strände des Südens sind die Grenzlinien zu einer anderen Welt, zur Welt der Armen. Der Grenzwall umschließt Europa, Nordamerika, Australien und Neuseeland, wo 14 % der Weltbevölkerung 73 % des Einkommens für sich beanspruchen. An Europas Süden drängt die „afrikanische Platte“ mächtig nach Norden und führt zu erschütternden Bruchlinien der Menschlichkeit und der Solidarität auf diesem Globus. Dort nämlich laufen die massenhaften Flüchtlingsströme auf harten Grund, wenn sie nicht vorher schon in den Fluten des Meeres verschwunden sind. Sie kommen in völlig unzureichend ausgerüsteten Kuttern und Schlauchbooten daher, wahrscheinlich von skrupellosen Vermittlern auf die Reise geschickt, und fahren oft auf geradem Weg in den Abgrund. Zwischen 4.000 und 20.000 Opfer schätzen nichtstaatliche Organisationen NGOs pro Jahr. Die Bandbreite ist deshalb so groß, weil offizielle Zählungen verboten sind bzw. niemals an die Öffentlichkeit gelangen. Best ausgerüstete Kriegsschiffe werden auf hohe See geschickt, um diese für die kleinen Schinakeln unbefahrbar zu machen. Ihr Wellengang hat sie längst „abgetrieben“ und aus dem Blickfeld der Behörden geschafft. Was hinter den nassen Kulissen geschieht, kratzt keinen mehr.
Das Schicksal der Cap Anamur
Ein Lied von dieser Wirklichkeit kann Elias Bierdel singen. Er arbeitet seit März 2010 als Experte für Migration und Grenzmanagement am Österreichischen Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung in Schlaining. Der gebürtige Berliner war 2004 der Vorsitzende eines Hilfskomitees, das im Hafen von Lübeck ein Hilfs- und Rettungsschiff, die Cap Anamur, ausrüstete, um schiffbrüchigen Flüchtlingen erste Hilfe zu leisten. Da entdeckten sie im Hoheitsgewässer der Insel Malta ein schiffbrüchiges Schlauchboot, besetzt mit 37 afrikanischen Flüchtlingen, die seit Tagen auf dem Wasser trieben, keinen Treibstoff mehr hatten, weil der vorhandene gar nicht zum Motor passte und diesen kaputt gemacht hat. Sie hatten kein Wasser und keine feste Nahrung mehr an Bord und ihr Boot begann bereits, Luftdruck zu verlieren. Selbst die stärksten unter ihnen waren nicht mehr in der Lage, die rettende Strickleiter hinaufzuklettern, sie mussten einzeln mit Seilen hochgezogen werden.
Nach der ärztlichen Notversorgung an Deck wurde verzweifelt versucht, eine Landegenehmigung in Sizilien (Porto Empedocle) zu erlangen. Diese wird nach allen formalen Erledigungen zunächst auch erteilt, aber ca. 20 km vor Land wieder zurückgezogen. Der Erzbischof von Sizilien und zwei Comboni-Missionare setzten sich tatkräftig für die Schiffbrüchigen ein. Elf Tage treibt die Cap Anamur vor der Küste. Als die physischen und psychischen Zustände an Bord unerträglich werden, entschließen sich Elias Bierdel und sein Kapitän zur illegalen Landung im sizilianischen Hafen. Beide werden sofort in Haft genommen, die Flüchtlinge notversorgt und später wieder nach Afrika zurückgeschickt. „Da habe ich zum ersten Mal einen Schwarzafrikaner weinen gesehen“, schildert Bierdel die verzweifelte Situation.
Bierdel und sein Kapitän selber werden in Agrigent vor Gericht gestellt. Ihnen werden Schlepperei und ungerechtfertigte Medienmache vorgeworfen. Sie werden mit vier Jahren Haft und 400.000 Euro Bußgeld bedroht. Der Prozess dauert vier Jahre und endet schließlich mit einem totalen Freispruch. Denn zuletzt griff die Erkenntnis Platz, dass nur durch das beherzte und rasche Eingreifen der Cap Anamur die 37 Afrikaner gerettet werden konnten: Rettung in höchster Not kann kein und darf Verbrechen sein kann.
Tod im Mittelmeer
An den Ferienstränden Südeuropas landen immer wieder „Nussschalen“, deren Besatzung den Strapazen der Überfahrt nicht gewachsen war und bereits tot ankommt. Die Leichen werden eilends irgendwo vergraben, auf den Friedhöfen gibt es keinen Platz dafür. So werden unsere südlichen Strände langsam zum größten Massengrab des Kontinents. Höchstens kleine Gedenktafeln sind dort zu entdecken sind mit der Aufschrift „Afrikaner“ – mehr weiß man von ihnen nicht. Wie viele der Gestrandeten, die verzweifelt in Europa eine Zukunft suchten, der Meeresboden unseres schönen Mittelmeeres birgt, kann man nicht einmal schätzen.
Schätzen kann man aber die Tragödien, die sich hier abgespielt haben müssen und immer noch abspielen, unbemerkt von der Öffentlichkeit und wohl auch abgeschirmt vor dem Blick der Verantwortlichen. „Kirchenräume“, so sagt Elias Bierdel, „sind dafür prädestiniert, solche Wahrheiten auszuhalten, zu betrauern und zu beweinen. Wir können nicht alle auf eine Cap Anamur, aber wir können unsere Betroffenheit über die andere Seite der Wohlstandswirklichkeit in der Festung Europa zeigen. Sie muss ein Umdenken in der privaten Lebensführung bewirken, weg vom Zwang des immer mehr und immer erfolgreicher, hin zu Werten der Menschlichkeit und inneren Qualität.“
Unsere Wohlstandswelt ist zur ‚walled world’ – zur Welt, die von einer Mauer umgeben ist – geworden. Sie hält es für naturbedingt, dass die Einen hungern und die Anderen schwelgen. Das Elend der Flüchtlinge im Mittelmeer bleibt der Beichtspiegel für Besinnung und Umkehr.
Ernest Theußl. Der Autor ist Diözesanobmann der KMB Steiermark.