Geschwister
Adam und Eva bekamen zwei Söhne, zuerst den Kain und dann seinen Bruder Abel. Kain wurde Ackermann, Abel Schäfer. Beide brachten Gott ein Opfer und dankten ihm für alles, was er ihnen jeden Tag zum Leben gab. Kain gab von den Früchten des Feldes, Abel von den Erstlingen seiner Herde. Gott sah das Opfer
von Abel und nahm es freundlich an, Kains Opfer würdigte er nicht, was diesen vergrämte. Er war neidisch auf seinen Bruder und Gott ermahnte ihn dafür. Doch er hörte nicht auf ihn und erschlug seinen Bruder.
Ganz schön starker Tobak, was da schon im ersten Buch Mose über die Beziehung von Geschwistern zu lesen ist. Es geht um ungleich verteilte Liebe und Aufmerksamkeit durch den Vater. Es geht um berufliche Benachteiligung, weil der Status eines „Viehzüchters“ höher bewertet wird als die Arbeit eines „Ackerbauern“. Es geht um den dadurch hervorgerufenen Neid auf den Bruder. Anstatt diese Ungleichheit aufzulösen, wird der Benachteiligte für seinen Gram auch noch ermahnt.
Vielleicht geht es auch um die Reihenfolge der Geburt, wenn der Erstgeborene immer zur Vernunft gemahnt wird, während dem jungen Bruder vieles automatisch in den Schoß fällt. Es geht um eine langjährige Geschwisterbeziehung, in der sich Aggressionen so weit aufgestaut haben, dass sie sich in einer Katastrophe entladen.
Wenn all das schon so prominent in der Bibel beschrieben wird, könnte man meinen, dass die Psychologie die Mechanismen von Geschwisterbeziehungen bereits gründlich untersucht und Schlüsse daraus gezogen hat. Dem ist nicht so, weil es dafür keine einfachen oder allgemein gültigen Antworten gibt, sondern
im besten Fall eine Annäherung.
Jede Familiensituation muss als Einzelfall betrachtet werden, und diese Einzelfälle sind so unterschiedlich wie die Personen, die darin eine Rolle spielen: Eltern und Großeltern und deren Geschichte, Familiengrößen und unterschiedliche Zusammensetzungen, etwa Patchwork-Situationen, Geschlechts- und Altersunterschiede und vieles mehr. Einfache statistische Erklärungen, die sich vor allem auf die Reihenfolge der Geburt konzentrieren, sind in diesem Gesamtgefüge zwar interessant, aber wenig aufschlussreich.
Ein Geschwisterlein kommt
Der erste Schock setzt meist schon in früher Kindheit ein. Da wächst im Bauch der Mama etwas heran, das einmal mein Bruder, meine Schwester sein wird. Bislang ist noch alles im grünen Bereich, aber wenn dieses Geschwisterlein dann plötzlich
da ist, zieht es die gesamte Aufmerksamkeit von Mama und Papa auf sich. Eine Aufmerksamkeit, die bislang exklusiv für mich da war. Kann man das Geschwisterchen nicht wieder zurückgeben?
Genau in dieser Situation braucht das ältere Kind besonders viel Aufmerksamkeit. Die Eltern müssen auf einen guten Ausgleich bei der Zuwendung achten. Auch Omas, Opas und Freunde sind gut beraten, sich nicht vorrangig auf das kleine, süße Baby zu stürzen, sondern – wie bisher – die erste Aufmerksamkeit dem
älteren – und vielleicht gerade bockigen – Kind zu schenken.
Mit der Geburt des Bruders oder der Schwester beginnt jene Beziehung im Leben, die man sich nicht ausgesucht hat und die trotzdem besonders dauerhaft angelegt ist. „Eltern sterben, Freunde verschwinden, Intimbeziehungen lösen sich auf – aber
Geschwister bleiben einem Menschen meist lebenslänglich erhalten“, schreibt der Schweizer Psychologe Jürg Frick.
Ob diese Geschwisterbeziehung gelingt, ob die Schwester oder der Bruder als Bereicherung meines Lebens oder als feindliche Konkurrenz gesehen wird, hängt vor allem von den Eltern ab. Sie bewerten in den ersten Lebensjahren, was gut oder schlecht ist, von welchen Fähigkeiten ihrer Kinder sie anderen voll Stolz
erzählen und was sie lieber nicht erwähnen wollen, wen sie wofür loben, mit wem sie schimpfen. Kinder spüren das, auch wenn es nicht explizit gesagt wird. Benachteiligungen und Bevorzugungen, Bewertungen sowie alle Arten von Ungerechtigkeit schüren den Neid auf den anderen und können Geschwisterbeziehungen auf Dauer vergiften.
Immer dieses Streiten Aber auch wenn die Eltern alles richtig machen – ihre Kinder
werden miteinander streiten, und das sogar ziemlich häufig – laut Studien aus den USA drei- bis sechsmal in der Stunde. Der jüngere Bruder wirft den Turm um, den die ältere Schwester gebaut hat, der ältere Bruder verpetzt die jüngere Schwester,
weil sie trotz Verbots der Eltern im nahegelegenen Bach gespielt hat. Das größte Konfliktthema ist jedoch die Frage, wer mehr oder weniger bekommt. Das reicht vom Essen über das Spielzeug bis zum Neid über den Freiraum des anderen. Letztendlich ist auch das eine Frage von mehr oder weniger Aufmerksamkeit.
Das ewige Streiten ist für Eltern eine ziemliche Herausforderung, erfüllt aber einen wichtigen Zweck bei der Entwicklung der Kinder: Die Familie ist laut Frick die erste soziale Gruppe für die Kinder, ein erstes langjähriges Trainingsfeld für zwischenmenschliche Beziehungen und das Erlernen sozialer Kompetenzen. Die Kinder lernen, konstruktiv zu streiten, sich zu versöhnen, sich durchzusetzen oder nachzugeben, sich zu solidarisieren, Regeln aufzustellen und im besten Fall Kompromisse zu schließen.
Ein Faktor für die Häufigkeit und Intensität des Streitens ist der Altersunterschied. Ist dieser gering, führt das laut Frick zwar tendenziell häufiger zu einer engen, gefühlsintensiven Beziehung, ist aber auch der Grund dafür, dass es häufig zu Konflikten bis hin zu Handgreiflichkeiten kommt. Liegen drei und mehr
Jahre zwischen den Geschwistern, streiten sie nicht so oft, es gibt allerdings auch weniger gemeinsame Interessenfelder. Ab diesem Alter hat das ältere Kind auch schon gelernt hat, eigene Bedürfnisse aufzuschieben.
Einen wesentlichen Einfluss auf die Streitkultur hat der Erziehungsstil der Eltern. Fürsorgliche und liebevolle Eltern können bei Bedarf die richtigen Maßnahmen ergreifen, strenge Regeln, Strafen oder aggressive Sprache wirken sich negativ auf das Geschwisterverhältnis aus. Fehlt die elterliche Fürsorge, kann es sein, dass die Geschwister umso mehr füreinander da sind und aufeinander schauen. Letztendlich sind die Eltern auch beim Streiten Vorbild für die Kinder. Die Kleinen schauen sich genau an, wie sie ihre Konflikte austragen.
Ein toller Bruder – Die coole Schwester
Mit zunehmendem Alter erkennen die Kinder immer mehr die Vorteile von Geschwistern. Das ältere Kind ist häufig in der Rolle des Pioniers unterwegs, der bei den Eltern bereits Zugeständnisse erkämpft und den Weg für die jüngeren Geschwister geebnet hat, etwa wenn es darum geht, auswärts bei Freunden
zu übernachten oder wie lange man am Abend fortgehen darf. Sie sind es dann auch, die zunehmend Verantwortung für die Jüngeren übernehmen.
Die Jüngeren sind stolz auf den großen Bruder oder die große Schwester, weil sie so gut Gitarre spielen kann oder weil er im Sport erfolgreich ist. Die älteren Geschwister werden zu Vorbildern oder Kumpels, mit denen man gemeinsam etwas unternehmen kann, was man alleine nicht dürfte.
Besondere Leistungen von Kindern, etwa in der Schule, und die entsprechende Anerkennung durch die Eltern können bei den Geschwistern aber auch Minderwertigkeitskomplexe hervorrufen und in einer Rivalität enden. Sie suchen dann die Aufmerksamkeit im sozialen Gefüge der Familie dadurch zu erreichen,
dass sie justament das Gegenteil machen, und glänzen mit schlechten Schulnoten.
Von der Zwangsgemeinschaft zur Freiwilligkeit
Ab der Pubertät werden Geschwister normalerweise weniger wichtig füreinander. Die älteren starten in ihr eigenes Leben, ziehen weg, gehen in ihrem Beruf auf, gründen eine Familie. Die Beziehung der Geschwister erlebt eine neue Dimension – von der Zwangsgemeinschaft hin zur Freiwilligkeit. Wie diese Beziehung aussieht, ist in den bisherigen gemeinsamen Erfahrungen grundgelegt. Sie reicht von einer guten Freundschaft bis zum Abbruch der Kontakte.
Meist sind es die Eltern, die sich weiterhin um den Zusammenhalt der Familie bemühen, indem sie das Treffen der Kinder und ihrer neuen Familien organisieren. Weihnachten, Ostern oder Geburtstagsfeste sind immer wiederkehrende Gelegenheiten dafür. Man trifft sich bei Hochzeiten und Tauffesten der Neffen
und Nichten. Diese Familienfeiern sind willkommene Anlässe für Begegnungen.
Wenn die Eltern diese Rolle nicht mehr wahrnehmen, bekommt die Beziehung der Geschwister noch einmal eine neue Dimension. Sie übernehmen selbst die Verantwortung, den Kontakt untereinander aufrechtzuerhalten oder eben nicht. In dieser Phase müssen die Geschwister oft die Verantwortung für die Eltern übernehmen und sich zum Beispiel um deren Pflege kümmern. Sind mehrere Kinder in einer Familie, kann die Verantwortung dafür geteilt werden.
Wenn die Eltern sterben und das Erbe zum Thema wird, kommt es zur letzten Feuerprobe in der Familie (siehe auch Y 5-2023). Wie eine Familie damit umgeht, zeigt, ob eine gute Kommunikations- und Konfliktkultur entwickelt wurde oder nicht. Hier schließt sich der Kreislauf, der am Beginn des Lebens mit der
Konkurrenz um Aufmerksamkeit begonnen hat. Geschwisterbeziehungen können endgültig in die Brüche gehen oder auf eine gute Basis gestellt werden.
Autor: Christian Brandstätter