![Leben in Fülle / zac-durant-_6HzPU9Hyfg-unsplash Ein Mann mit ausgebreiteten Armen von hinten beim Sonnenaufgang](/img/99/67/b7ddc8700994f3b8d2d4/Leben_in_F_lle-zac-durant-_6HzPU9Hyfg-unsplash.jpg)
Ein Leben in Fülle
Sie meint all jene Bereiche und Erfahrungen von Menschen, die über die unmittelbare Wirklichkeit hinausreichen. Beschrieben wird zumeist eine Verbindung zu etwas Transzendentem oder Göttlichem. Spiritualität ist ein ganz persönlicher, innerer Weg. Und weil wir Menschen unterschiedliche Bedürfnisse und Hintergründe haben, ist auch die Suche nach einer tieferen Bedeutung und Erfüllung im Leben von Mensch zu Mensch verschieden.
Joachim Podechtl steht jeden Morgen um kurz nach fünf Uhr auf, füttert wortlos seine Katze und fährt dann ins etwa vier Kilometer entfernte Stift Wilhering zum Morgengebet. Das erste Wort des Tages spricht er dort zu Gott. Danach feiert er die Morgenmesse mit den Patres und bleibt auch noch zum Frühstück, bei dem sie sich über verschiedene Themen austauschen. Und das fast jeden Tag.
Podechtl ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und ist gerade zum ersten Mal Großvater geworden. Gemeinsam mit seiner Frau führt er eine Handelsfirma. „Ich komme aus der Wirtschaft und habe in meinem Leben viel mit Geld zu tun gehabt. Je intensiver ich den Glauben erfahren durfte, desto mehr wollte ich von dem Materiellen wegkommen und mir etwas suchen, das mich vom Sinn des Lebens her weiterbringt“, erzählt Podechtl, wie es dazu kam. Er hat sich intensiv mit Theologie beschäftigt und die Ausbildung zum Diakon gemacht, über die er mit Abt Reinhold Dessl vom Stift Wilhering in Kontakt kam.
Zum Glauben braucht man Freunde
Im Stift Wilhering hat Podechtl eine Heimat im Glauben gefunden. „Es ist schön, allein im Gebet zu sein, aber unglaublich schön ist es, in einer Feiergemeinschaft oder Betgemeinschaft dabei sein zu dürfen.“
„Wir bieten in unserem Haus ein freiwilliges Ordensjahr an, bei dem man die Möglichkeit hat, von drei Monaten bis zu einem Jahr im Kloster mitzuleben, mitzubeten und mitzuarbeiten“, erzählt Abt Dessl. „Daraus hat sich die zisterziensische Weggemeinschaft Wilhering entwickelt. Das ist eine Möglichkeit, mit dem Kloster in enger Verbindung zu bleiben, ohne einzutreten.“ Von den Mitgliedern wird eine regelmäßige Präsenz im Kloster erwartet, die ziemlich individuell gestaltet werden kann. „Einer kommt fast täglich, einer so zwei Mal die Woche, einer immer sonntags und auch zwei Lehrer sind dabei, die in den Ferien zu uns kommen.“
Eine Möglichkeit ist auch, ein paar Tage als Gast im Kloster mitzuleben. Dafür gibt es keine fixen Termine, wie dies in anderen Klöstern angeboten wird. Aufenthalte werden auf individuelle Anfrage vereinbart. Die Gäste bekommen ein Zimmer und nehmen an den vier Gebetszeiten am Tag und den gemeinsamen Mahlzeiten teil. Die Zeit dazwischen kann individuell gestaltet werden, mit Lesen oder Spazierengehen. Dabei ergeben sich auch Möglichkeiten zum Gespräch. Ein Fixpunkt jeden Samstag ist das Bibelgespräch, bei dem Mitbrüder und Gäste über die Bibeltexte des kommenden Sonntags sprechen. „Wenn Leute länger hier sind, werden sie auch in den Arbeitsprozess eingebunden“, erzählt Abt Dessl: mithelfen in der Pilgerbetreuung, bei Angeboten für Schulklassen oder mit dem Gärtner mitgehen. „Die Zusammenfassung der Regel des Hl. Benedikt lautet ja ‚ora et labora et lege‘ – ‚bete und arbeite und lies‘. Ganz wichtig ist das Wort ‚und‘ dazwischen, die Balance. Man kann nicht den ganzen Tag meditieren.“
Wichtig ist für Dessl die Struktur: „Genauso wie es Zeiten für das Gebet gibt, gibt es auch Zeiten für die Arbeit und auch Zeiten für die Erholung. Es braucht Rituale, den Tag zu beginnen, den Tag zu beenden. Da ist das Klosterleben sehr hilfreich. Das hilft den Menschen, mehr Ordnung ins Leben zu bringen.“
Anleitung für das Leben mitnehmen
Zu Beginn hatten die Mitbrüder in Wilhering die Befürchtung, dass das intensive Mitleben im Kloster die Männer von ihren Partnerinnen und ihren Familien entfremdet. Dessl dazu: „Aus Erzählungen weiß ich, dass genau das Gegenteil eingetreten ist. Beziehungen wurden vertieft, das Glaubensleben hat sich intensiviert, es ist vielfach wieder Ruhe im Leben einkehrt, manches kommt wieder in Ordnung.“ Es gehe nicht darum, kurz aus dem Leben auszusteigen, sondern das Erlebte in den Alltag mitzunehmen: „So ein Tag im Kloster kann helfen, das Leben wieder neu zu sortieren.“
So wie bei Joachim Podechtl, der mittlerweile neben seiner Firma auch zwei Tage in der Woche in der Seelsorge im Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern in Linz tätig ist, was er als wunderbare Bereicherung in seinem Leben sieht. Ein strukturierter Tagesablauf hilft ihm, alles unter einen Hut zu bekommen. Er achtet sehr genau darauf, wie er mit seiner Zeit umgeht, setzt sich am Abend nicht vor den Fernseher und verweigert sich auch den digitalen Plattformen. Und um zehn Uhr geht er schlafen, um Kraft für den nächsten Tag zu sammeln.
Auch was die Sorge über eine Entfremdung von der Familie betrifft, bestätigt er Abt Dessls Einschätzung. „Natürlich gab es zu Beginn viele Fragezeichen. Was passiert da jetzt gerade mit ihm? Wo führt das noch hin? Verlässt er gar die Familie und geht ins Kloster? Mit der Zeit kam die Akzeptanz. Das ist ja gar nicht so schlecht, wie der Vater über dieses und jenes denkt. Die Gespräche mit meiner Frau und auch mit den Kindern haben eine neue Dimension erhalten. Ich habe in den Gebeten gelernt, dass man eine neutrale Sichtweise haben soll, dass man Verständnis für andere Menschen hat, dass man nicht verurteilt. Dadurch kann viel Frieden entstehen, es kommen kaum Konflikte zu Tage, was für die Familie auch sehr heilend ist.“
Glaube und Spiritualität
Podechtl ist auf seine ganz individuelle Art und Weise ein spiritueller Mensch. Wenn man sein Tun der Definition von Spiritualität im Online-Lexikon Wikipedia gegenüberstellt, hat er „in der Hinwendung zu einer transzendenten Wirklichkeit höchstpersönliche Erfahrungen gemacht, die direkte Auswirkungen auf seine Lebensführung und seine ethischen Vorstellungen haben“. Man kann ihn aber auch als gläubigen Menschen bezeichnen.
Die Begriffe Glaube und Spiritualität sind eng miteinander verbunden, dennoch gibt es auch Unterschiede. Glaube bezieht sich auf festgelegte Überzeugungen oder religiöse Dogmen, die in einer bestimmten Religion vorgegeben sind. Sie sind an eine bestimmte Gottheit gebunden, an deren Lehren, an heilige Schriften und an Rituale, die in einer Gemeinschaft geteilt werden. Spiritualität kann auch außerhalb organisierter Religionen ihren Platz haben und beschreibt generell eher die individuelle Suche nach einer tieferen Verbindung und Bedeutung im Leben.
Fernöstliche Rituale
Wenn wir an Spiritualität denken, sind es oft fernöstliche Rituale, die uns faszinieren. Zum einen deshalb, weil sie uns in eine fremde Welt entführen, und das ist schon einmal interessant für alle, die auf der Suche nach Neuem sind. Zum anderen beinhalten sie Elemente, die auf unsere zivilisationsbedingten Probleme zugeschnitten sind: Techniken zur Stressbewältigung, zur Förderung der geistigen Gesundheit oder zur Verbesserung der Konzentration in Kombination mit traditionellen körperlichen Disziplinen wie Yoga, Tai Chi oder Qigong. Dazu kommen noch fernöstliche Heilmethoden wie zum Beispiel Ayurveda oder Akupunktur, die einen ganzheitlichen Ansatz zur Gesundheit und zur Harmonisierung von Körper und Geist betonen. Für alle, die nach innerem Gleichgewicht und ganzheitlichem Wohlbefinden suchen, ist die Anziehungskraft dieses spirituellen Angebotes groß.
Spiritualität am Rande der Gesellschaft
Einen ganz anderen spirituellen Zugang pflegt Andreas Knapp. Er ist Mitglied der Ordensgemeinschaft der „Kleinen Brüder vom Evangelium“, die sich auf das spirituelle Vorbild von Charles de Foucauld zurückführen. Dieser hatte ein bewegtes Leben, er war Abenteurer, Forscher, Mönch, dann ist er als Einsiedler in die Sahara gegangen. Diese Elemente von Stille und Rückzug und gleichzeitig mitten unter den Leuten zu sein prägt die Gemeinschaft, die versucht, aus der Spiritualität von Nazareth zu leben. Knapp lebt mit drei Mitbrüdern in einem Plattenbau in Leipzig, hat zehn Jahre Fließbandarbeit gemacht, dann war er einige Jahre Gefängnisseelsorger und ist heute in der Flüchtlingsarbeit tätig.
„Wir versuchen, hier in der Nachbarschaft im Viertel mitzuarbeiten und in einer Umgebung präsent zu sein, in der es ganz wenige Christen gibt. Spirituell ist uns wichtig, dass es Zeiten der Stille gibt, also die Spiritualität der Wüste. Wir haben hier in unserer Wohnung eine Kapelle, in der wir uns zwei Mal am Tag zu einer gemeinsamen Gebetszeit treffen. Jeder Mitbruder hat jeden Tag auch seine Zeiten der Stille. Wir haben dazu auch noch eine kleine Eremitage im Wald, wo jeder zwei bis drei Tage pro Monat ganz allein in die Stille geht.“
Seine Aufgabe sieht Knapp darin, bedürftige Menschen, in seinem Fall sind dies vor allem Flüchtlinge, im Alltag zu begleiten. Oft sind dies ganz banale Dinge wie die Erledigung des Behördenkrams. Darüber hinaus ergeben sich viele freundschaftliche Kontakte.
Spiritualität im Alltag
„Der Bezug zur Spiritualität ergibt sich aus der Haltung, aus der heraus wir das machen“, erklärt Knapp. „Wir sind eine starke Solidargemeinschaft und unterstützen uns in unserem Tun gegenseitig. Charles de Foucauld war immer einer, der Brücken bauen wollte zwischen den Menschen unterschiedlichster Nationalitäten, Sprachen und Religionen und nannte sich den universalen Bruder. Wir versuchen dasselbe zu leben, wenn etwa Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen zu uns zum Essen kommen. Gott ist der Vater aller Menschen, unser Tun hat diesen spirituellen Hintergrund.“
Die „Kleinen Brüder vom Evangelium“ versuchen bei ihren Jobs, mit Menschen in Kontakt zu sein, die in der Gesellschaft nicht so im Mittelpunkt stehen, etwa in der Behindertenbetreuung, in der Hospizbewegung oder mit vernachlässigten Kindern. International sind viele Brüder auch an Orten unterwegs, die gefährlich sind, in problematischen Ländern oder in schwierigen sozialen Situationen.
Knapp: „Über den Zugang von Charles de Foucauld können wir etwas darüber entdecken, inwieweit unser konkreter Alltag, unsere Arbeit einen spirituellen Charakter hat. Leider trennen wir das oft so, dass Spiritualität etwas für den Feierabend, für das Wochenende oder den Sonntag ist. Die Spiritualität hat auch etwas mit meinem Alltag zu tun, mit meinen Beziehungen, mit meinen Hobbys und mit meinem Engagement. Das ist auch das Spezifische an Charles de Foucauld, dass er die Spiritualität nicht in einem Kloster gelebt hat, sondern mitten unter den ganz normalen Leuten und deren Alltag geteilt hat.“
Männliche Spiritualität
Charles de Foucauld könnte mit seinem Leben als Abenteurer auch so etwas wie ein Vorbild für eine besondere, männlich geprägte Spiritualität sein. Damit sind bestimmte Aspekte gemeint, die mit traditionellen Männlichkeitsbildern und den entsprechenden Erfahrungen in Verbindung gebracht werden, wie Unabhängigkeit, spezielle Initiationsrituale, eine intensive Verbindung zu Natur und Wildnis oder die Betonung von körperlicher Fitness. „Männer sind vielleicht auch gerne einmal unter sich“, drückt es Abt Dessl aus, einen wesentlichen Unterschied zwischen den Geschlechtern kann er allerdings nicht ausmachen. Individuelle spirituelle Praktiken und Erfahrungen können durchaus geschlechtsspezifisch sein, nicht jedoch die zentrale Herausforderung, die Suche nach einer tieferen Bedeutung und Erfüllung im Leben.
Autor: Christian Brandstätter, Verlag Lebensart