Katholische Soziallehre
Leonhard Merckens ist Unternehmer mit Leidenschaft. Der 50-Jährige vertreibt abgeworfene Hirschgeweihe in alle Welt und stellt aus ihnen Hundekauknochen her. Zehn Mitarbeiter beschäftigt er in seinem Unternehmen „Hirschalm“ in Kleinzell im Bezirk Lilienfeld, bald werden es eine Handvoll mehr am neuen Standort in der Slowakei sein. „Natürlich möchte ich, dass mein Unternehmen positiv arbeitet“, sagt Merckens, „alles andere wäre unsinnig. Die Frage ist, wie komme ich dorthin?“ Der Weg zum Erfolg führt für Merckens – neben einem guten Produkt – über seine Mitarbeiter. Ihnen traut er eigenverantwortliches Handeln zu, er bindet sie in die Prozesse im Unternehmen ein und fördert ein gutes Betriebsklima. „Ich komme aus einer Unternehmerfamilie und habe an meinem Vater gesehen, wie wichtig ihm jeder einzelne Mensch, jeder Mitarbeiter war. Das hat mich sehr geprägt.“ Merckens ist es zudem ein starkes Bedürfnis, mit seinem Unternehmen so nachhaltig wie möglich zu handeln. Jedes Jahr lässt er die CO2 -Bilanz von „Hirschalm“ berechnen und setzt als Ausgleich für die Emissionen klimaschonende Maßnahmen.
Ethisches Unternehmertum
Leonhard Merckens persönliches und wirtschaftliches Handeln ist stark von seinem Glauben beeinflusst. Die Bibel ist ihm Inspiration, genauso wie die Katholische Soziallehre (KSL), deren Prinzipien ihn leiten. Die christliche Prägung seines Elternhauses, dazu die fortwährende Beschäftigung mit dem Christentum und seinen Werten haben dazu geführt, dass er weiß, woran er sein Tun als Mensch und Unternehmer orientieren möchte. „Kirche und Wirtschaft“, sagt Merckens, „sollten viel mehr zusammengebracht werden.“ Viele Unternehmer hätten ein großes Interesse daran, sich an ethischen Werten zu orientieren, die KSL könne ihnen in dieser Hinsicht vieles bieten. „Leider fehlt Unternehmern im Alltag oft die Zeit, sich damit auseinanderzusetzen. Zum Glück gibt es aber auch viele, die dem Thema Priorität geben“, sagt Merckens, der im Vorstand des Forums christlicher Führungskräfte ist, das alle zwei Jahre zu einem Kongress ins Stift Göttweig lädt.
Keine konkreten Antworten
Mit der KSL reflektiert die Kirche darüber, wie ein gutes Zusammenleben aller Menschen gelingen kann. Vor rund 130 Jahren hat sie sich mit Leo XIII. und seiner Enzyklika „Rerum Novarum“ erstmals ausdrücklich zu Wort gemeldet, seitdem haben die Päpste in ihren Sozialenzykliken zu den sozialen Problemen ihrer Zeit immer wieder Stellung bezogen. Dass die KSL mit ihren Prinzipien – Personalität, Solidarität, Subsidiarität und Gemeinwohl – für Gesellschaft, Politik und Wirtschaft und für das Handeln des Einzelnen nach wie vor wichtige Impulse liefern kann, steht für Markus Schlagnitweit außer Frage. Der Priester leitet die Katholische Sozialakademie Österreich. „Die KSL ist wie ein Kompass. Dieser gibt die Richtung vor, den Weg, der zu gehen ist, zeigt sie nicht.“ Wer konkrete Antworten auf drängende soziale Fragen erwartet, werde enttäuscht sein, räumt Markus Schlagnitweit ein. Pauschallösungen, die in allen Ecken der Welt anzuwenden sind, könne es gar nicht geben. „Die päpstlichen Sozialenzykliken als Grunddokumente der KSL richten sich an die gesamte Weltkirche. Sie können gar nicht allzu konkret werden, weil die Lebensverhältnisse der Menschen so unterschiedlich sind.“
Mehr Kenntnis notwendig
„Die Prinzipien der KSL müssen auf der Ebene einer Gesellschaft, eines Unternehmens oder einer Familie durchbuchstabiert werden“, betont Schlagnitweit. Für ein Unternehmen kann das bedeuten, die Meinungen seiner Mitarbeiter ernst zu nehmen und Tools zur Mitarbeiterbeteiligung zu entwickeln, für einen Staat, zwischen dem Recht auf Privateigentum und Maßnahmen zum Schutz vor zu viel Bodenversiegelung abzuwägen; für ein Individuum, verantwortungsbewusste Wahlentscheidungen zu treffen. „Im Prinzip wäre jeder getaufte Katholik dazu aufgerufen, nicht nur das zu tun, was ihm gerade einfällt, sondern sich zu fragen, was die Kirche zu seinem Handeln sagt.“ Das würde allerdings voraussetzen, die Inhalte
der KSL zumindest ansatzweise zu kennen. Mit dieser Kenntnis schaue es schlecht aus, auch unter Theologen. Und gerade diese – als Priester, Seelsorgerinnen oder Religionslehrer – sind es, die ihre Inhalte unter die Menschen bringen könnten.
Korrektiv für Kosten-Nutzen-Prinzip
Für Andreas Gjecaj, den Vorsitzenden der Katholischen Aktion Steiermark, sind die Inhalte der KSL auf jeden Fall zu wertvoll, um sie in der Schublade verstauben zu lassen. „Wir haben in der Kirche genug Material, um damit stärker in Erscheinung zu treten, und könnten uns zum Beispiel als Katholische Männerund Frauenbewegung viel häufiger zu Wort melden, um in die Gesellschaft hinein zu wirken“, sagt Gjecaj, der auch Generalsekretär der Fraktion Christlicher Gewerkschafter ist. Gerade in einer Welt, in der vieles nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip bewertet wird, sei ein Korrektiv umso wichtiger. Denn: „Menschen, die in dieser Logik nichts mehr oder nur wenig zu bieten haben, werden schnell als überflüssig eingestuft. Da ist es wichtig zu betonen, dass jeder in seiner Menschenwürde zu achten ist – unabhängig davon, wieviel er beitragen kann.“
Christlicher Grundwasserspiegel der Caritas
Auch Rainald Tippow, Theologe und Leiter der Pfarr-Caritas in der Erzdiözese Wien, sieht im Fokus auf die unantastbare menschliche Würde einen wesentlichen Beitrag der Kirche für die Gesellschaft. „Diese Würde kommt jedem zu, egal ob jung oder alt, auf der Flucht, arm oder reich, geboren oder ungeboren. Auf diesem Fundament steht die Arbeit der Caritas.“ Alle Mitarbeiter der Caritas sollen mit diesen Grundlagen vertraut sein. Eine große Herausforderung, denn: „Allein in der Caritas Wien stehen wir vor der erfreulichen Aufgabe, Menschen mit mehr als hundert Muttersprachen und zu einem großen Teil ohne österreichische Wurzeln unseren christlichen Grundwasserspiegel näherbringen zu dürfen.“ Die KSL und ihre Prinzipien dienen der Caritas Wien dabei als Referenzpunkt. In einer Broschüre werden die vier Prinzipien der KSL erklärt und veranschaulicht. Bei einem Orientierungstag für neue Mitarbeiter setzen sich diese ebenfalls damit auseinander, was Personalität, Solidarität, Subsidiarität und Gemeinwohl mit der konkreten Caritas-Arbeit zu tun haben.
Prinzipien hängen zusammen
Markus Schlagnitweit betont, dass die Prinzipien der KSL zusammenhängen. „Es wird immer wieder vergessen, dass keines der Prinzipien absolut gilt und dass sie füreinander als Korrektiv wirken.“ Ein Beispiel: In einer Gesellschaft, in der Individualität ein hoher Wert ist, bildet das Prinzip der Solidarität ein gesundes Gegengewicht zur Tendenz der Vereinzelung und der Überhöhung des Individuums. Erlebbar wurde das während der Coronapandemie. Persönliche Interessen und Bedürfnisse mussten hintangestellt werden, aus Solidarität mit jenen, die besonderen Schutz vor dem Virus brauchten. Das verlief nicht friktionsfrei. „Wir erinnern uns noch an die heftigen Debatten, die geführt wurden. Solidarität musste eingefordert werden und viele fühlten sich während der Lockdowns in ihren Grundrechten beschnitten.“
Kontextabhängig
Ein anderes Beispiel: Nimmt die Flexibilisierung in der Arbeitswelt besonders starke Ausmaße an, braucht es möglicherweise mehr Gespür für die Interessen der Gemeinschaft. „So angenehm es sein kann, dann zu arbeiten, wann es einen freut: Es darf nicht übersehen werden, dass für eine Gesellschaft gemeinsame Zeitrhythmen wichtig sind“, sagt Schlagnitweit. Denn wann soll sich die Feuerwehrgruppe für ihre Übungen treffen, wann der Kirchenchor proben, wann die Familie gemeinsam essen, wenn es keine kollektiven freien Zeiten wie den Abend oder das Wochenende gibt? In Gesellschaften wie jenen in Ostasien, in denen die Gemeinschaft eine große Rolle spielt, wäre es hingegen verkehrt, das Solidaritätsprinzip zu forcieren. Dort braucht es – orientiert man sich an der KSL – mehr Fokus auf die Entfaltung des Individuums und seine Eigenverantwortung. Es kommt eben auf den Kontext an.
Autorin: Sandra Lobnig