![Christian Religious Family Group Prays to God Thankful Crop Farm / Jani Bryson, JBryson A joyful family offers thanks to God for the success of their wheat crop on their farm. Represents faith, 'down home' family values and an ethic of hardwork and love.](/img/f1/1a/b8897d6d77784d4e6593/Christian_Religious_Family_Group_Prays_to_God_Thankful_Crop_Farm-JBryson_-_iStock-161150301.jpg)
Pfarrgemeinde: Verantwortung für die Welt
Die erste Frage lautete: „Wozu sind wir auf Erden?“ Die Antwort: „Wir sind auf Erden, um Gott zu erkennen, ihn zu lieben und ihm zu dienen, und dadurch in den Himmel zu kommen.“ Damit wir dieses Himmelsziel auch „verdienen“, wurden uns viele Tools gegeben: Gebet, Kirchgang, Beichte, Morallehren, Herzjesufreitage. Inzwischen weiß ich, dass dieses Programm grundsätzlich nicht falsch ist, es einen aber ängstlich und zwanghaft machen konnte. Jahrzehnte später fiel mir eine Spruchkarte in die Hände. Darauf stand ein Ausspruch des Aachener Bischofs Klaus Hemmerle (1929–1994): „Wir Christen sind nicht dazu auf Erden, damit wir in den Himmel kommen, sondern damit der Himmel schon jetzt auf die Erde kommt.“
Gott braucht Menschen für seine Welt
Es war noch einmal Jahre später. Ich war gerade Dekan der katholisch-theologischen Fakultät in Wien. Eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern, die in Religion maturierten, hatte mich zu einem Disput im ORF-Radiocafe eingeladen. Ich kam wegen einer Sitzung an der Universität etwas verspätet. Kaum saß ich im Podium, fragte ein gut vorbereiteter Maturant: „Wozu brauchen Sie Gott?“ Ich dachte nicht lange nach und sagte: „Ich brauche Gott nicht. Denn Gott ist zu nichts zu gebrauchen!“ Ein ganz wichtiger Satz zu unsrem Gottesbild! Denn wir sind leicht in Gefahr, aus einem unpassenden Gott einen uns passenden Gott zu machen. Dann aber sagte ich weiter: „In meinem inzwischen schon längeren Leben habe ich gelernt, dass Gott mich für seine Welt braucht. Und es könnte gut sein, dass auch unter Ihnen einige sind, denen Gott genau das zumutet!“
Es geht Gott dabei um nicht weniger, als dass der Himmel schon jetzt auf die Erde kommen kann, in Spuren wenigstens. Dazu berief Gott Propheten. Der größte in deren Reihe war Jesus aus Nazaret, einer von uns und zugleich der mit Gott in einmaliger Weise Verbundene. Jesu Lebensprojekt war genau dieses: Der Himmel – oder wie er sich ausdrückte, das „Himmelreich“, das „Reich Gottes“ – soll auf die Erde kommen. „Reich Gottes“ wird in der Christkönigpräfation besungen als „das Reich der Wahrheit und des Lebens, das Reich der Heiligkeit und der Gnade, das Reich der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens“. Kurzum: Indem Jesus auch den Jüngerinnen und Jüngern riet, Gott um das Kommen des Reiches Gottes zu bitten, war es die Bitte um mehr Frieden, Gerechtigkeit, Wahrheit und Liebe in der Welt. Dafür hat Jesus sich in Wort und Tat sein kurzes öffentliches Leben lang unnachgiebig eingesetzt.
Die Jesusbewegung und ihre vielfältigen Sozialgestalten
Damit aber sein Anliegen nicht vergessen wird und sich weiterhin Menschen für dieses Kommen des Himmels auf die Erde engagieren, hat er eine Bewegung, heute würden wir sagen: eine NGO gegründet. Ich nenne sie die Jesusbewegung. Sie ist das Innerste dessen, was wir Kirche nennen und worum sich ihr Leben und Tun dreht bzw. drehen sollte.
Natürlich hat diese Kirche im Lauf der Zeit unterschiedliche Sozialformen angenommen. Aus der „Kirche der Brüderlichkeit“ (Joseph Ratzinger) wurde eine staatlich gestützte Priesterkirche. Diese war geprägt von einem Gegenüber von Priestern und Laien. Die Priester sorgten sich, die Laien ließen sich versorgen. Diese Zweiklassenkirche verfestigte sich immer mehr, analog zu den umgebenden Herrschaftsmodellen, zu einer zentralistischen Monarchie, die ihren Höhepunkt auf dem Ersten Vatikanischen Konzil erreicht hat.
Das Zweite Vatikanische Konzil kehrt in seiner Kirchenlehre zum Anfang zurück. Im Dokument über die Kirche (Lumen gentium) wurde die Priesterkirche zur Kirche des Volkes Gottes vertiefend umgebaut. Die Gleichheit aller Getauften gelangte bis ins Kirchenrecht von 1983.
Allerdings wurde diese neue egalitäre Kirchentheologie mit dem herkömmlichen Amtsverständnis nicht wirklich ausgesöhnt. Praktisch blieb es nämlich beim „pastoralen Grundschisma“ des Gegenübers von Priestern und Laien, und das nicht nur in der Form des Klerikalismus vieler Priester, sondern auch im Klerikalismus in den Herzen und Köpfen vieler Laien. Dazu kommt, dass in Kirchengebieten, die eine Kirchensteuer oder einen Kirchenbeitrag haben, die Priesterkirche lediglich modernisiert wurde: Es entstand eine Dienstleistungskirche mit vielfältigem pastoralem Personal, und das mit bester Ausbildung. Auf diese Weise konnte sich aber die innere Spaltung in der Kirchengestalt nahtlos fortsetzen. Die Vision von einer Kirche, in der es „auf Grund der Wiedergeburt in Jesus Christus (also der Taufe) eine fundamentale Gleichheit an Würde und Berufung“ (Lumen Gentium 1) gibt, harrt immer noch der Umsetzung.
Papst Franziskus arbeitet mit seinem Projekt Synode 2021–2024 genau an dieser Kirchenvision des Zweiten Vatikanischen Konzils. Und wenn diese gelingt, wird aus der Servicekirche künftig eine gastfreundliche Kirche derer werden, die ihre von Gott gegebene Berufung entschlossen angenommen haben und in ein Engagement in der Jesusbewegung umsetzen – und das in vielfältigen Gemeinden, Gemeinschaften und Organisationen (wie beispielsweise der KMB), die sich wiederum gemeinsam in vielfältigen Projekten zugunsten der Welt engagieren. Manche werden, nach Maßgabe ihrer familiären und beruflichen Möglichkeiten, in mehreren Zusammenschlüssen tätig sein: in ihrer Pfarrgemeinde und in der Männerbewegung; manche zudem in nichtkirchlichen Einrichtungen.
Von dieser kommenden „Kirche“ handeln die folgenden Überlegungen. Es werden ein paar Eckpunkte vorgestellt. Dabei wird den Lesern, den Leserinnen, welche die Kirche aus eigener Erfahrung gut kennen, schnell klar werden, welch enormen Entwicklungsbedarf die Kirche hierzulande hat. Allerdings warne ich mit dem Spruch von Karl Valentin (1882–1948): „Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie einmal war.“ Auf Prognosen, also auch meine pastoraltheologischen, ist kein definitiver Verlass: Immerhin besitzen sie aber eine gut begründete Wahrscheinlichkeit.
Berufungskirche
Wir werden weniger. Denn der kulturelle und staatliche Druck der Konstantinischen Ära ist zu Ende. Jeder und jede ist frei zu wählen, was er glaubt oder ob sie sich einer Kirche anschließt. Spirituell gehört zu dieser Freiheit jene Frage, die sich jede und jeder im Lauf seines Lebens stellen muss: Wozu braucht mich Gott in meinem Leben? Braucht er mich gar als eine Art „Hoffnungspartisanin“ in seiner Bewegung zugunsten der Welt von heute? Ich für meinen Teil gehe davon aus, dass mich Gott bei der Schlussevaluierung fragen wird, was ich mit seiner Berufung zur Jesusbewegung gemacht habe. Ich werde Ausreden vorbringen: „Lieber Gott, hast Du schon wieder vergessen, mit welchem Pfarrer, Bischof, mit welchen ehrenamtlichen Mitarbeitenden ich zu tun hatte? Und dann der Missbrauch von geistlicher Macht, der Klerikalismus.“ Und Gott wird mir in aller göttlichen Ruhe zuhören, um dann zu mir zu sagen: „Diese werde ich alle noch fragen. Aber jetzt bist Du dran!“ Es gibt eine unvertretbare Eigenverantwortung. Nun sind nicht alle berufen, in der Jesusbewegung ihrem Lebensruf zu folgen. Das muss auch nicht sein. Wir sind, so der Bewegungsgründer, Salz der Erde. Ich kam noch nie auf die Idee, wenn ich seine Suppe koche, 100 Prozent Salz hineinzugeben. Dann aber braucht es ein Salz, das nicht schal ist. Qualität zählt, nicht Quantität. Wir nähern uns wieder dem biblischen Normalfall.
Einer ist noch keiner (Tertullian)
Die Jesusnachfolgenden des Anfangs hatten den Namen „Anhänger des Weges“ (Apg 9,2). Christsein bedeutet daher von Anfang an ein „Miteinander auf dem Weg sein“: „syn“ (miteinander) und “odós“ (Weg). Die Kirche ist in ihrem Wesen synodal. Niemand bildet allein die Bewegung. „Einer ist noch keiner“, so der Kirchenlehrer Tertullian. Kirche ist Gemeinschaft: Sie feiert, sie erzählt, sie lebt mit den Armen. Nun kann natürlich jemand mit der Bewegung sympathisieren, ohne ihr anzugehören – was ja auch zu Jesu Zeiten schon der Fall war.
Dass wir als Christen immer Gemeinschaft sind, hat innere Gründe. Wir sind dank der Taufe „gottverwandte“ Schwestern und Brüder. Dazu kommen äußere Gründe: Die Gemeinschaft stützt einerseits die Berufung der einzelnen Mitglieder, gibt hrem Tun Orientierung und Motivation. Andererseits können die von Gott „Hinzugefügten“ (Apg 2,47) als Gemeinschaft miteinander Gastfreundschaft üben: mit den Suchenden, den Zweifelnden, mit jenen, die Gott leugnen, den es so Gottseidank gar nicht gibt; denen, die für ihre Lieben um Segen bitten, die Trost brauchen, weil sie einen lieben Menschen beerdigen, und die sich freuen, dass ein Kind gesund zur Welt gekommen ist, oder Unterstützung erhoffen, wenn das Kind behindert oder gar vor der Geburt gestorben ist.
Nicht zuletzt können diese Gemeinschaften, die wie „Herbergen“ (Jan Hendriks) sind, mit anderen zusammen Projekte auf die Beine stellen. Solche sind in vielen Bereichen möglich: Gemeinschaften verbünden sich zu Bildungsprojekten. Sie arbeiten mit profanen Einrichtungen zur Bewahrung der Schöpfung zusammen. Miteinander sorgen sie sich durch „Suppenküchen“ und „Tafeln“ für Menschen in prekären Lebenslagen. Viele werden sich um jene Gäste kümmern, die das Land als Schutzsuchende aufnimmt.
Ehrenamtlich
Diese Gemeinschaften werden ihr Leben „ehrenamtlich“ gestalten. Die Mitglieder bringen Zeit und Geld ein. Kirchensteuer/ Kirchenbeitrag wird es nicht mehr geben. Um sich für gemeinsame Projekte in der Gesellschaft hauptamtliche professionelle Kräfte leisten zu können, tragen sie miteinander finanziell bei. Auch die Ordinierten werden ehrenamtlich tätig sein.
Priestermangel wird es dann keinen geben. Ordinierte kommen morgen in der Regel nicht mehr vom freien Berufungsmarkt. Vielmehr wählt eine gläubige Gemeinschaft, die ein „Recht“ hat, Eucharistie als Quelle und Höhepunkt ihres Lebens zu feiern, erfahrene Personen („personae probatae“) aus. Für die Auswahl der Ordinierten gelten nur zwei Kriterien: Sie sind randvoll mit dem Evangelium und im Gemeinschaftsleben erfahren. Geschlecht, Lebensform und vollakademische Ausbildung zählen nicht, gute berufsbegleitende Ausbildung hingegen schon. Das lässt hoffen, dass diese Personen in ihrem Leben zufrieden sind, egal ob sie in der Hochrisikolebensform Ehe oder in der Hochrisikolebensform Ehelosigkeit leben. Nur Zufriedene können gute pastorale Arbeit machen.
Was künftig nicht mehr vorkommen wird: Die Mitglieder der Jesusbewegung namens Kirche werden sich ihrer Berufung nicht schämen. Auch wissen sie, dass zur Kirchenberufung die Zumutung und das Kreuz gehört: Von Wellness ist bei keiner Berufungsgeschichte in der Bibel zu lesen. Schon gar nicht werden sie das gängige „Kirchenbashing“ unterstützen. Denn die Religionen und damit unsere Kirche zählen zu den wenigen Hoffnungsressourcen in der taumelnden Welt von heute.
Kirchenkritik wird wichtig sein, aber noch mehr Kirchenloyalität. Auch wird nicht gejammert. Wer das bei Sitzungen macht, zahlt 50 Euro in ein Sparschwein, das auf dem Tisch zur Mahnung aufgestellt wird.
Pastoralkultur
Die kommende Kirchengestalt wird eine gute Pastoralkultur entwickeln. Würde, Gleichheit und Berufung aller werden respektiert. Anerkennung, Ermächtigung und Beheimatung prägen den geistvollen Umgang miteinander. Was alle angeht, wird von allen gemeinsam beraten und entschieden. Denn „allen ist die Offenbarung des Geistes gegeben, damit sie allen nützt“ (1 Kor 12,7). Die Ordinierten werden dafür verantwortlich sein, dass die Gemeinschaft in allem, was sie tut und verkündet, in der Spur des Evangeliums und mit den anderen Gemeinschaften des Evangeliums verbunden bleibt. Weicht die Gemeinschaft davon ab, hat die ordinierte Person das Recht und die Pflicht, mit Autorität Einspruch zu erheben. Das Thema muss dann in den Gremien der Gemeinschaft aufs Neue verhandelt werden, bis eine evangeliumsverträgliche Lösung gefunden ist.
Wichtiger als solche innerkirchlichen synodalen Grundregeln ist den kirchlichen Gemeinschaften und Gemeinden, dass sie eine Leidenschaft für die Welt entwickeln und dem Raum, in dem sie leben, Himmelsgeschenke machen. Ob das stattfindet, werden sie daran überprüfen, ob der Himmel über ihrem Lebensraum offen ist, also Gott und daher auch die Leidenden nicht vergessen werden. Eine solche Kirche wird für die taumelnde Welt ein Segen sein.
Autor: Prof. Paul M. Zulehner