Der Stern des Anstoßes
Weil es bei einer gendergerechten Sprache um mehr geht als um männlich oder weiblich, lesen wir heute immer häufiger Texte, in denen statt dem „I“ ein Stern oder ein Doppelpunkt zu lesen sind. TV-Moderator*innen sprechen seit einiger Zeit von Expert*innen, Schüler:innen, Ärzt:innen. Sie lesen den Stern bzw. Doppelpunkt im geschriebenen Text, indem sie den Redefluss des Wortes ganz kurz unterbrechen. Die Aufregung ist oft enorm.
Abos werden storniert, bitterböse Kommentare kursieren in sozialen Netzwerken, an den Stammtischen kocht die Volksseele. Aber was hat es mit dem Gendern auf sich, woher kommt das und wie steht die Katholische Kirche dazu?
Der Begriff „Gender“ taucht, noch bevor er in feministischen Theorien üblich wird, bereits in den 1960er Jahren im medizinischen Kontext der Therapie von Trans- und Intersexualität auf. Er bezeichnet die soziale Dimension von Geschlecht, im Unterschied zum biologischen Begriff „Sex“. Die Sex-Gender-Unterscheidung
findet auch im bekannten Satz von Simone de Beauvoir aus dem Jahr 1949 seinen Ausdruck: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ Damit wird ausgesagt, dass soziale Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern nicht in biologischen Unterschieden, sondern in soziokulturellen Zuschreibungen gründen.
1995 hat die vierte UN-Weltfrauenkonferenz in Peking die Agenda des Gender Mainstreaming allen Staaten zur Umsetzung vorgelegt, 1998 wurde die Agenda in der EU im Vertrag von Amsterdam beschlossen. Damit wurde eine Geschlechterpolitik verpflichtend, die auf die Gleichstellung von Männern und Frauen in allen Lebensbereichen zielt. Strukturen, die geschlechterspezifische Ungleichheiten bewirken, müssen verändert werden. Sichtbares Zeichen dafür ist unter anderem eine Form der Sprache, die niemand ausschließt.
Kirche auf Distanz
Seitens des Vatikans wurde die in Peking verabschiedete Agenda heftig kritisiert. Der Begriff Gender würde die Anbindung an das biologische Geschlecht negieren und damit bloß eine soziale, veränderbare Konstruktion bezeichnen. Der Beschluss zur Umsetzung wurde letztlich nur deshalb geduldet, weil explizit festgehalten wurde, dass Gender im allgemein üblichen Sinnverständnis von Mann und Frau zu begreifen ist.
Dass Gender auch anders begriffen werden könne, stand damals anhand des Buches „Gender Trouble“ (deutsch: „Unbehagen der Geschlechter“) der Philosophin Judith Butler (1990) zur Diskussion und löste aufseiten der Kirche massive Kritik aus. Abwertend ist seitdem von einer „Gender-Ideologie“ die Rede. Aber was heißt „anders begriffen“? Papst Benedikt XVI. zufolge bestreite die Gender-Theorie, dass der Mensch „eine von seiner Leibhaftigkeit vorgegebene Natur hat“. Somit wäre Geschlecht nur „eine soziale Rolle, über die man selbst entscheidet“. Diese „tiefe Unwahrheit“ leugne die „von der Schöpfung kommende Dualität von Mann und Frau.“
Auch Papst Franziskus spricht davon, dass durch die Gender-Ideologie die „natürliche Aufeinander-Verwiesenheit von Mann und Frau“ geleugnet und so die Grundlage der Familie ausgehöhlt werde. Dadurch würde die Familie in Frage gestellt, Homosexualität mit Heterosexualität gleichgestellt und ein neues Modell
polymorpher Sexualität gefördert.
Für die Katholische Kirche bezeichnet also Gender einen radikalen Eingriff in das natürliche Verständnis von Geschlecht, da es losgelöst von biologischen Vorgaben nur als sozial konstruiert und damit frei wähl- und veränderbar aufgefasst wird. Ein solches Verständnis von Gender entspringt jedoch keinem wissenschaftlich fundierten Diskurs. Es geht hier nicht um die Auflösung biologischer Unterschiede, sondern darum, dass diese Unterschiede (= Sex) nur in sozialer Interpretation verstanden werden können und darum immer schon Gender sind.
Die katholische Gender-Kritik fußt somit auf einem sinnverdrehten Verständnis von Gender. Dieses dient letztlich dem Zweck, andere Formen von sexuellem Begehren und Geschlechtsidentität als unnatürlich und – wie vor Kurzem noch üblich – als krankhaft interpretieren zu können. Dieses naturrechtliche Denken und dessen Legitimation als Gesetz Gottes bewirkt, dass LGBTIQ-Personen (lesbisch, schwul , bisexuell, trans, inter und queer) zumindest als suspekt angesehen und in Folge von vielen Möglichkeiten eines erfüllten Lebens ausgeschlossen werden.
Naturrecht kontra Menschenrecht
Diese katholische Naturrechtslogik steht im Gegensatz zur säkular dominanten Logik der Menschenrechte, wo der Schutz vor Diskriminierung in der jüngeren Vergangenheit zunehmend als Standard etabliert worden ist. Freilich gibt es dagegen nach wie vor massive, nicht selten religiös konnotierte Widerstände. Davon unbeeindruckt soll in menschenrechtlicher Logik die in der Freiheit des Menschen gründende Autonomie gerade auch im Blick auf sexuelle Ausrichtung und geschlechtliche Identität Anerkennung finden. Der Kirchenrechtler Bernhard Sven Anuth bringt die Diskrepanz auf den Punkt: „Was im Staat Diskriminierung wäre, gilt in der Kirche als geistbegabte Auslegung von Gottes Plan für Mann und Frau.“
Daraus entsteht für die Katholische Kirche ein enormes Vermittlungsproblem. Wie kann sie noch Kirche in der Welt von heute sein? Der Widerspruch könnte nur dadurch aufgelöst werden, wenn der Vatikan die Menschenrechtscharta der UNO unterzeichnet und die Problemlagen in Bezug auf die Auslegung von Gottes
Plan für Frau und Mann beseitigt. Erst dann würde sachlich zur Kenntnis genommen werden können, dass es Gender-Theorien nicht um die Leugnung der biologischen Dimension des Menschen geht, sondern diese darauf abzielen, dass auch jenen Menschen, die sich im traditionell binären Schema von Mann und Frau nicht finden, volle Anerkennung zuteilwird. Dieses Ziel sollte die katholische Kirche teilen können. Ihr geht es ja um die Verdeutlichung der unbedingten Zuwendung Gottes zu allen Menschen.
Autor: Dr. Gerhard Marschütz ist Professor i.R. für Theologische Ethik
an der Universität Wien.