Entwicklungszusammenarbeit - Ein Pflaster auf die Wunden der Welt
Nachts ist es kalt in den Bergen von Quiché, bitterkalt. In den Dörfern des Departamento im Nordwesten von Guatemala kriecht die Kälte in die einfachen Hütten der Bewohner, in denen bis zu fünfzehn Menschen, Erwachsene und Kinder, leben. Häufig in nur einem Raum, der als Küche, Wohn- und Schlafzimmer
dient. Geheizt wird mit einer offenen Feuerstelle, die auch zum Kochen verwendet wird. Für die Gesundheit der Menschen hat das fatale Folgen. „Vor allem Frauen und Kinder haben aufgrund der starken Rauchentwicklung schwere Lungenprobleme, gerötete Augen, eine rauchige Stimme“, erklärt Franz Hehenberger von der Hilfsorganisation Sei So Frei Oberösterreich.
Seit sieben Jahren unterstützt Sei So Frei Familien der Region deshalb bei der Anschaffung eines Holzsparofens. „550 Öfen wurden bereits gebaut. Im Moment sind zwei weitere Dörfer dran“, sagt Hehenberger.
Sei So Frei wurde Anfang der 1960er Jahre von der Katholischen Männerbewegung (KMB) unter dem Namen „Bruder in Not“ gegründet, zu einer Zeit, in der das, was später unter dem Begriff „Entwicklungszusammenarbeit“ (EZA) subsummiert wurde, noch „Entwicklungshilfe“ hieß. Im Laufe der darauffolgenden Jahrzehnte haben sich die entwicklungspolitischen Ziele verschoben und die entsprechenden Maßnahmen verändert.
Nicht mehr nur ein einziges Entwicklungskonzept
Stand anfangs der Gedanke der „nachholenden Entwicklung“ im Zentrum – mit hohen Investitionen in Infrastruktur und Industrie –, sprach man eine Dekade später von der „Hilfe zur Selbsthilfe“ und davon, wie wichtig die Eigeninitiative der Entwicklungsländer ist. In den 1990er Jahren begannen die Geber, die Vergabe ihrer Mittel an „good governance“, also an gute Regierungsführung – Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Marktwirtschaft – der Empfängerländer zu knüpfen. Mit den acht Millenniums-Entwicklungszielen im Jahr 2000 wurden schließlich erstmals konkrete Ziele formuliert, wie die Halbierung der Zahl jener Menschen, die an Hunger leiden und in extremer Armut leben bis zum Jahr 2015. Tatsächlich zeigten die Anstrengungen in genau diesem Bereich Wirkung und das Ziel wurde erreicht.
Und heute? Welche Ziele verfolgen die Staatengemeinschaft und die anderen Akteure in der Entwicklungszusammenarbeit? Welches Verständnis von Entwicklung ist momentan „en vogue“? „Es gibt heute nicht mehr nur ein einziges Entwicklungskonzept“, sagt Friedbert Ottacher, Experte für Entwicklungszusammenarbeit. Vor allem dann nicht, so Ottacher, wenn man unter diesem Konzept das westliche Verständnis von Entwicklung meint, inklusive Wertetransfer und mit moralischem Anspruch. „Viele Staaten empfinden das als Bevormundung, lehnen deswegen Gelder aus der Entwicklungszusammenarbeit ab und wenden sich Staaten wie China zu, die ihre Gelder nicht an ‚good governance‘ koppeln.“
Keine schnelle Lösung für Migration
Ist Entwicklungszusammenarbeit ein adäquates Mittel, um Migration zu stoppen, wie das in Österreich mit der Rede von der „Hilfe vor Ort“ kolportiert wird? „Jein“, sagt Ottacher. Die Erklärung, dass mehr Hilfe in den betroffenen Ländern die Migration reduziere, greife zu kurz: „Viele Länder brauchen die Diaspora, also ihre Landsleute in den Industrieländern, weil diese sehr viel Geld in ihre Heimat schicken.“ Dennoch: Bessere Lebensbedingungen in Flüchtlingslagern, finanziert durch EZA-Gelder, können durchaus verhindern, dass sich Menschen auf
den Weg nach Europa machen.
„Grundsätzlich muss man aber sagen, dass Entwicklungszusammenarbeit langfristig die Perspektive ändert. Eine schnelle Lösung für die Migration kann man sich dadurch nicht erwarten.“ Es habe sich in den vergangenen Jahren gezeigt, dass Probleme wie Armutsmigration, aber auch Klimawandel und – ganz aktuell – die Corona-Pandemie nur global angegangen werden können. Statt von Entwicklungszusammenarbeit spreche man deswegen heute eher von internationaler Zusammenarbeit. „Der Norden und der Süden stehen einander nicht mehr gegenüber, sondern arbeiten zusammen, um die globalen Probleme zu lösen“, erklärt Ottacher.
Bescheidene Summe für globale Probleme
Sei So Frei ist eine von mehreren österreichischen Nichtregierungsorganisationen
(NRO), die sich Entwicklungszusammenarbeit auf die Fahnen geschrieben haben. Weltweit gibt es tausende NROs – darunter internationale Giganten wie die Caritas oder World Vision, aber auch viele mittlere und kleine Organisationen, die lokal arbeiten. Ob groß oder klein, religiös motiviert oder politisch ausgerichtet: NROs sind bedeutende Akteure in der Entwicklungszusammenarbeit. Neben ihnen spielen die Unterorganisationen der Vereinten Nationen, Finanzinstitutionen wie beispielsweise die Weltbank, kirchliche Hilfswerke und Privatinitiativen eine wichtige Rolle.
Und natürlich die sogenannten Geberstaaten, die sich bereits 1970 dazu verpflichtet haben, 0,7 Prozent des BIP für Entwicklungszusammenarbeit auszugeben. Österreich ist einer von ihnen. Mit Ausgaben von knapp 0,3 Prozent des BIP verfehlt Österreich sein Ziel deutlich, was von Hilfsorganisationen regelmäßig scharf kritisiert wird. Zählt man die Gelder aller Geberstaaten sowie jene der Europäischen Kommission und der Vereinten Nationen zusammen, kommt man auf eine Summe von rund 140 Milliarden Euro pro Jahr. Eine äußerst bescheidene Summe, wenn man an eines der großen Ziele entwicklungspolitischer Anstrengungen denkt: Hunger und die globale Armut auszurotten. „Mit diesen Mitteln ist das nicht realistisch“, sagt Friedbert Ottacher, „dazu braucht es vor allem wirtschaftliche Entwicklung und andere Interventionen.“
Mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein
Dass es in den vergangenen zwanzig Jahren tatsächlich gelungen ist, die Zahl der Menschen in absoluter Armut um die Hälfte zu senken, sei also in erster Linie dem wirtschaftlichen Aufschwung in Ländern wie China und Indien zu verdanken. Trotzdem, meint Ottacher, könne Entwicklungszusammenarbeit – punktgenau eingesetzt – viel bewirken und sei mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. „Es gibt einzelne Bereiche, da hat sich durch Entwicklungszusammenarbeit viel getan. Zum Beispiel bei der Einschulungsrate in Subsahara Afrika. In den 1990er Jahren ist dort eines von zwei Kindern in die Schule gegangen, heute sind es achtzig Prozent aller Kinder.“ Auch im Bereich Gesundheit gebe es wahrnehmbare Erfolge, wie die Senkung der Mütter- und Kindersterblichkeit um fünfzig Prozent. Wie wirksam Entwicklungsprojekte tatsächlich sind, sei jedenfalls schwer zu messen, weil sie ja nicht im luftleeren Raum stattfinden und immer eine Vielzahl an Faktoren zusammenspielen. Professionalisierung und damit einhergehende Evaluierung, wie sie in den vergangenen zehn Jahren passiert sind, hätten der Branche gutgetan.
Qualitätsstandards für kirchliche Entwicklungszusammenarbeit
Wie wichtig es ist, dass entwicklungspolitische Arbeit professionell abläuft, betont auch Anja Appel, Leiterin der Koordinierungsstelle der Österreichischen Bischofskonferenz (KOO), jener Dachorganisation, die das Engagement kirchlicher Entwicklungsorganisationen und Missionsorden in Österreich koordiniert.
„Die Kirche hat schon immer eine Kultur des Teilens gehabt, das ist ein großer Schatz. Umso wichtiger ist es, dass die kirchliche Entwicklungszusammenarbeit hohen Qualitätsstandards entspricht.“ Die Mitgliedsorganisationen der KOO
verpflichten sich deshalb zu einheitlichen Qualitätsstandards.
Darüber hinaus empfiehlt Appel, auch bei kleineren Projekten, wie sie immer wieder von Pfarren organisiert und finanziert werden, für ein gewisses Maß an Qualitätsmonitoring zu sorgen. „Man kann beispielsweise bei einem Hilfswerk nachfragen, das im entsprechenden Land tätig ist, und sich Rat holen. Vielleicht können die vor Ort sogar jemanden vorbeischicken, der sich das Projekt anschaut.“ Fehlinvestitionen und Missbrauch könnten so verhindert werden und Projekte möglicherweise eine größere Reichweite bekommen.
Keine Leistungsshow
Der Einsatz für eine gerechte Welt hat in der katholischen Kirche eine lange Tradition. Viele Hilfswerke und Nichtregierungsorganisationen in der Entwicklungszusammenarbeit haben kirchliche Wurzeln oder arbeiten aus einer christlichen Motivation heraus. Das entwicklungspolitische Engagement, erklärt Anja Appel, habe natürlich nicht erst mit Papst Franziskus begonnen. Auch wenn dieser dem Thema nicht zuletzt in seinen beiden Enzykliken „Laudato si“ und „Fratelli tutti“ viel Aufmerksamkeit widmet. „Die katholische Kirche ist schon sehr lange in ganz vielen Regionen der Welt präsent und hat deshalb die verschiedenen Lebensrealitäten der Menschen immer wahrgenommen.“ Daraus sei die Sorge um die Ungleichheit entsprungen, ebenso wie das Engagement für die Armen und die Arbeit in sozialen Einrichtungen.
„Kirche sieht sich als Weltkirche. Man versteht sich als eine Familie, in der man verantwortlich für das Leben der anderen ist.“ Genaue Zahlen, was die Kirche im Vergleich mit anderen Organisationen in der Entwicklungszusammenarbeit leistet, gebe es aber nicht. „Das ist auch nicht so wichtig. Entwicklungszusammenarbeit ist ja keine Leistungsshow. Was man aber sagen kann: Je mehr Entwicklungszusammenarbeit es insgesamt braucht, umso desaströser läuft es gesamtpolitisch. Entwicklungszusammenarbeit ist wie ein Pflaster auf Wunden, die durch Maßnahmen in anderen Politikfeldern geschlagen werden, etwa in der Agrar- oder Handelspolitik.“
Und was kann jeder Einzelne tun?
Kann der einzelne angesichts weltweiter Armut und ungerechter Ressourcenverteilung überhaupt sinnvoll zur Entwicklungszusammenarbeit beitragen? „Ja, das kann er“, betont Anja Appel von der KOO. „Zuerst einmal geht es darum, wahrzunehmen, was mein Leben mit dem von anderen zu tun hat und wo ich verantwortlich bin.“ Konkrete Maßnahmen, um der persönlichen Verantwortung nachzukommen, können auf verschiedenen Ebenen gesetzt werden. Spenden kann eine wirkungsvolle Möglichkeit sein. „Aber Spenden allein ist zu wenig“, sagt Appel. „Eine Veränderung des eigenen Lebensstils und politisches Engagement sind notwendig.“
Und wenn ich Geld spende. Kommt das auch an?
Wer spendet, will, dass sein Geld dort ankommt, wo es gebraucht wird. Im Idealfall zu hundert Prozent. Dass Organisationen in der Entwicklungszusammenarbeit einen Teil ihrer Spenden für Verwaltung oder Werbung verwenden, stößt so manchem Spender deshalb sauer auf. Ein gewisser Anteil an Verwaltungsausgaben sei aber unbedingt notwendig, sagt Wolfgang Heindl von Sei So Frei Salzburg. „Bei einer Organisation, die sagt, ‚Alles geht zu hundert Prozent in den Süden‘, wäre ich vorsichtig. Denn ab einem gewissen Level und Volumen brauche ich bezahlte Kräfte, wenn ich Qualität in der Entwicklungszusammenarbeit haben möchte.“
Projekte zu entwickeln, durchzuführen und zu evaluieren kostet Geld. Spendenaufrufe in der Öffentlichkeit zu platzieren – durch Postwurfsendungen oder Plakate – ebenso. „Für alle, die das Bedürfnis haben, ihr Geld ausschließlich für ein bestimmtes Projekt zu spenden, gibt es bei uns die Möglichkeit von gewidmeten Spenden, die dann direkt dorthin gehen.“
Um herauszufinden, ob eine Organisation verantwortungsvoll mit dem ihr anvertrauten Geld umgeht, empfiehlt Heindl, sich ihre Website gut anzuschauen: „Wie ist der Internetauftritt? Finde ich alle Informationen, die ich suche? Gibt es einen Jahresbericht? Trägt die Organisation das Spendengütesiegel?“ Insbesondere das Spendengütesiegel gibt die Sicherheit, dass Spenden sorgsam und widmungsgemäß verwendet werden und eine Organisation regelmäßig von einem unabhängigen Wirtschaftsprüfer kontrolliert wird.
ENTWICKLUNGSPOLITISCHES ENGAGEMENT
KÖNNTE SO AUSSEHEN:
* Fair gehandelte Produkte kaufen, damit die Produzenten im globalen Süden
angemessen entlohnt werden.
* Sich über die Bedingungen informieren, unter denen Kleidung und technische
Geräte wie Handys oder Computer hergestellt werden, und auf Gütesiegel
(zum Beispiel Clean Clothes) achten.
* Die Stimme erheben, indem man Petitionen unterstützt, Leserbriefe schreibt,
Politiker direkt anschreibt und für die Anliegen der Entwicklungszusammenarbeit
eintritt.
* Sich informieren, welche Politiker und welche Parteien die Anliegen der
Entwicklungszusammenarbeit unterstützen und daran das eigene Wahlverhalten
orientieren.
Autorin: Sandra Lobnig, Lebensartverlag
Buchtipp
Friedbert Ottacher, Thomas Vogel
Entwicklungszusammenarbeit im Umbruch.
Bilanz, Kritik, Perspektiven.
Brandes+Apsel, 3. überarbeitete Auflage; erscheint im zweiten Quartal 2021.