Barmherzigkeit - Die helle Seite Gottes
Der Papst hat das Jahr der Barmherzigkeit gleichzeitig zum „Heiligen Jahr" erklärt, ein außerordentliches zwar, weil ordentliche Heilige Jahre seit 1470 nur alle 25 Jahre stattfinden. Das letzte war 2000. Das erste Heilige Jahr wurde 1300 gefeiert. So dürfen wir heuer den Petersdom und die anderen Patriarchalkirchen in Rom wieder durch die Porta Santa (Heilige Pforte) betreten, die in den anderen Jahren zugemauert ist.
Barmherzig und gnädig
„Der Herr ist barmherzig und gnädig, langmütig und reich an Güte". (Ps 103,8) So zeichnet das Buch der Psalmen das Gottesbild des Ersten Testaments. Und so wie sich der Mensch Gott denkt, so wünscht er in seinem Innersten, dass auch die Menschen selber seien. Barmherzig und gnädig! Wäre das ein Programm für ein friedliches Zusammenleben auf dieser Erde? Barmherzigkeit, ein Vokabel, das auch im säkularen Raum sein Echo findet?
Barmherzigkeit lässt sich wahrscheinlich schwer definieren, weil sie mehr mit dem Gefühl als mit dem Verstand zu tun hat. Sie ist das Bemühen, die Not des anderen zu erkennen und für ihn das Gute zu wollen. Es ist eine Art Liebe, die nicht auf Gegenleistung und Nutzen aus ist, ein Entgegenkommen, das man sich eigentlich nicht verdient hat. Barmherzigkeit ist auch kein Recht, das man einfordern könnte, worauf man Anspruch hat, sie ist die großherzige Variante von Gerechtigkeit und Strenge. Das II. Vatikanum (1962-65) hat sich diese urchristliche Tugend wieder zum Leitstern gemacht. In der Eröffnungsrede zu diesem Konzil (11. Oktober 1962) sagte Papst Johannes XXIII. vor den versammelten Konzilsvätern: „Heute möchte die Braut Christi lieber das Heilmittel der Barmherzigkeit anwenden als die Waffe der Strenge" und hat damit für die Weltkirche den vielbesungenen „Konzilsgeist" eingeläutet.
Verbindende Eigenschaft Gottes
Das Gottesbild der drei abrahamitischen Religionen ist geprägt vom Begriff Barmherzigkeit. „Jahwe ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue," (Dt 34,6) heißt es im Alten (Ersten) Testament, und jede Sure des Koran beginnt mit dem Bekenntnis: „Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen" und die Barmherzigkeit ist auch eine der 99 Eigenschaften Gottes im Islam. Und wenn Jesus von Gott spricht, ist er geradezu durchflutet vom barmherzigen Gott. In der Bildrede vom Weltgericht, wird uns nicht ein „dies irae" vor Augen geführt, sondern die überraschende Botschaft, dass diejenigen zu den „Gesegneten des Vaters" zählen werden, die in ihrem Leben Barmherzigkeit geübt haben.
Barmherzig wie der Vater
Altes (Erstes) Testament und barmherziger Gott - wie geht das zusammen? Ist nicht das Gottesbild des Alten Bundes das eines Gerechtigkeit schaffenden, strafenden, ja zornigen Gottes? Hat sich das Christentum nicht allzu lange mit dieser Vorstellung vom Judentum abzugrenzen versucht?
An Jesu Anspruch können wir erkennen, dass diese Spannung gerade sein Wirken hier auf Erden ausgemacht hat. Die Spannung zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, die unser Gottesbild bis heute umkreist. Wäre das nicht so, warum hätte Jesus dann das Gleichnis vom „barmherzigen Vater" (Lk 15, 11-32) erzählen müssen? Schon bei der Benennung dieser Erzählung stockt der Gedanke, heißt es doch in unserer Bibelausgabe „das Gleichnis vom verlorenen Sohn"!
Wer ist jetzt eigentlich gemeint, der barmherzige Vater, oder der verlorene Sohn?
Lukas leitet das Kapitel mit den „drei Verlorenen" (Schaf, Drachme, Sohn) mit der Bemerkung ein, dass die Pharisäer und die Schriftgelehrten sich darüber empörten, wie Jesus mit den Zöllnern und Sündern umging. Ihnen musste er offenbar erklären, was gemeint ist, wenn es in der Schrift heißt: „Der Herr ist barmherzig und gnädig". Am Beispiel vom barmherzigen Vater demonstriert er, was es heißt, „Gnade vor Recht" ergehen zu lassen. So wie es Papst Johannes formuliert hat: Lieber das Heilmittel der Barmherzigkeit, als die Waffe der Strenge.
Der Gott des Erbarmens
Im zweiten Brief an die Korinther ist uns eine Stelle von Paulus überliefert, die dieses Thema von einer anderen Seite beleuchtet: „Gepriesen sei der Gott und Vater Jesu Christi, unseres Herrn, der Vater des Erbarmens und der Gott allen Trostes." (2Kor 1,3) Paulus spricht von den Leiden und Anfeindungen, die er ertragen musste um Christi willen, und von dem Trost, den er in seinem Glauben an Christus erfahren hat. Die Barmherzigkeit Gottes soll allen zum Trost werden, denen es genau so geht wie ihm. Es ist eine Kraft, Schweres zu ertragen, das leichter wird, wenn wir es gemeinsam tragen.
Barmherzigkeit statt Almosen
Durch die marxistische Religionskritik des 19. Jahrhunderts hat diese Haltung eine gewisse Wendung erfahren. Das Mitleiden und Erbarmen vertröste die armen und geknechteten Menschen zu sehr auf das Jenseits und trage nichts dazu bei, die Lage selbst zu verbessern. Ein Vorwurf, der in unseren Tagen auch immer wieder gegen Mutter Teresa vorgebracht wurde und wird. Durch ihren vorbehaltlosen Einsatz an den Armen Indiens habe sie die herrschenden Zustände akzeptiert statt sie zu verändern. Eine „Theologie der Befreiung" kannte sie nicht. Dasselbe gilt auch für die kirchliche Entwicklungshilfe, der man manchmal zu wenig Engagement zur Veränderung „ungerechter Strukturen" nachsagt.
Barmherzigkeit aber sieht anders aus. Es geht um die konkrete Hilfe vor Ort, ohne Rückfrage auf Verursacher und Schuldige. Der barmherzige Samariter hat nicht nach dem Täter gefragt, sondern einfach geholfen. Die Gesegneten des Vaters schauten nicht auf den „Tag des Gerichts", sondern haben den Hungernden zu essen und den Durstenden zu trinken gegeben. Das ist alles – aber wirklich alles. Barmherzigkeit ist eine Absage an die Illusion von einer heilen Welt und die tätige Anteilnahme am ihrem Leiden.
Autor: Ernest Theußl ist Obmann der KMB Steiermark.