Meinen Ruheort finden
Ich stehe im Wald. Mitten im Wald. In unseren Breiten durchziehen oft Forststraßen und kleinere Wege unsere Wälder, doch abseits der Wege eröffnet sich eine neue
Welt.
Hier ist wirklich Wald. Mächtige Buchen. Alte, tote Bäume, auf denen Baumpilze wachsen. Einzelne Sträucher. Am Boden viel Laub und herumliegende Äste. Farne, Moos. Ein paar Knochen …
Ich gehe weiter in den Wald hinein. Die Sinne schärfen sich. Ständig knacksen trockene Zweige unter meinen Schuhen. Geraschel im Laub, das Knarzen der Bäume. Vorne im Unterholz läuft ein Reh davon, ich muss es aufgescheucht haben. Ich rieche den Wald: ein erdig-modrig-feuchter Geruch, vermischt mit harzigem Duft der Nadelbäume. Meine Augen können sich nicht sattsehen an den vielen Grün- und Brauntönen …
Ich bleibe stehen. Es ist so ruhig. Nicht ganz still. Vogelgezwitscher. Irgendwo in der Ferne ein Flugzeuggeräusch. Die Zivilisation ist nicht fern. Doch hier ist es anders. Mein Handy ist ausgeschaltet, ich bin allein. Setze mich auf einen alten Baumstumpf. Ich werde ruhig, höre meinen Herzschlag.
Friede breitet sich aus.
Ich habe meinen Ruheort gefunden. Wenn mir Arbeit und Menschen zu viel werden, tauche ich ab, gehe raus, verlasse die manchmal einschränkenden Alltagswege – und auch bald die Forststraßen und Waldwege. Der ganze Wald ist zu meinem Ruheort geworden. Große Wälder halten immer wieder Überraschungen, neue Winkel bereit. Aber auf jeden Fall viel Platz für Ruhe und Erholung.
Es ist eine Ruhe, die tiefer geht, tiefer wirkt, als wenn ich daheim zur Ruhe komme. Es ist heilsame Ruhe, Ruhe, die meine Lebenswunden vernarben lässt. Ein Zu-mir-Kommen, das aus einem Eintauchen heraus entspringt, einem Eintauchen in unsere ursprüngliche Umgebung, in die Natur, den Wald.
Heilsame Ruhe: etwas, das jenseits der breiten Forststraßen meines Lebens liegt, auf denen ich mich täglich bewege, sicher und unhinterfragt. Mein Ruheplatz, an dem ich auch leichter mit Gott in Berührung komme, sucht mich nicht, er will gefunden werden. (Dadurch, dass Gott immer schon da ist, kann jeder Ort zu einem solchen Ruheort werden – sogar die Straßenbahn am Morgen, wenn noch leises Gemurmel und Dösen vorherrschen.)
Die Ruhe des Waldes wirkt. In der Ruhe des Waldes entsteht neue Lebenskraft in mir.
Mag. Rainer Haudum
Mitglied im Redaktionsteam zum Männerbuch "Kraftstoff. Was Männer stärkt"