Jesus ist an seiner Richtstätte angekommen. Er wird seiner Kleider beraubt, muss allerlei Demütigungen über sich ergehen lassen. Der Kreuzweg führt uns unsere eigene Wahrheit vor Augen und konfrontiert uns damit. Alles Äußerliche muss weg. Alles, was ich mir sozusagen „umgehängt habe“, gilt in dieser Situation nichts. Unser Gewand hat in vielerlei Hinsicht eine Schutzfunktion, unterstreicht unseren Status oder wird eben zum Symbol für Erniedrigung.
Wenn ich jemanden festnagle oder mich festgenagelt fühle, ist keine Bewegung mehr möglich. Festgenagelt sein an Verpflichtungen, ausgesprochenen oder vermuteten Aufträgen. Dies kann sich sehr intensiv auswirken im Sinne einer Unmöglichkeit sich loslösen zu können, keine Bewegungsfreiheit mehr zu haben. Einschränkungen im Leben sind manchmal unverrückbare Tatsachen und manchmal Mauern, die wir mit Gott überspringen können.
Wenn wir Jesus seine tiefste Not hinausschreien hören, erzeugt das eine große Betroffenheit. Es lässt uns sprachlos und ohnmächtig werden. Es fährt uns durch Mark und Bein. Auch keiner von denen, die von Jesus gelernt haben, dem Leben zu trauen, kann ihm in diesem Moment beistehen. Stumm halten sich alle in sicherer Entfernung und warten auf seinen letzten Atemzug. Vor dem Kreuz geht es auch um die Auseinandersetzung mit der eigenen Angst in der tiefsten Verlassenheit.
Es schließt sich der Kreis. Dort, wo die Geschichte Jesu begonnen hat, geht sie nun wieder zu Ende – im Schoß seiner Mutter. Jesus bleibt ganz Mensch: „Von der Erde bist du genommen, zur Erde kehrst du wieder zurück“. (vgl. Gen 3,19)
Manchmal müssen wir eine Entwicklung, ein Schicksal hinnehmen, weil wir keinen Einfluss darauf haben. So etwa, wenn wir einen Menschen verlieren, mit dem wir in besonderer Weise verbunden waren. Plötzlich, unerwartet oder im Mitgehen bis zum Ende eines mitunter langen, schweren Weges, wo wir das unausweichliche Ende herannahen sahen. Der Verlust eines geliebten Menschen wird in einer brennenden Form handgreiflich.
Josef von Arimathäa ist mutig und spricht bei Pilatus vor, ob er den Leichnam Jesu abnehmen darf. Und – überraschenderweise – erlaubt es Pilatus, denn die Römer haben es damals tunlichst vermieden, Gedenkstätten für Märtyrer zuzulassen. Das ist auch der Grund, warum das Grab von römischen Soldaten bewacht worden ist.
Grabesruhe. In der Tiefe der Erde geschieht das Wundersame, eine Art Verwandlung hin zu einem neuen, anderen Leben. „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht.“ (Joh 12,24)
Rettung, Erlösung geschieht in vielen biblischen Geschichten in der Nacht. Man kann das auch als Sinnbild sehen dafür, dass es immer auch um Erfahrungen von Nacht und Dunkel im menschlichen Leben geht: Krankheit, Verlust, Ängste, Schmerzen, Trennung, Einsamkeit. Denn in den biblischen Nachtgeschichten werden die Leidensgeschichten der Menschen überhaupt erzählt.