In seiner Predigt beim Gedenkgottesdienst betonte der Innsbrucker Jesuitenpater Christian Marte, Franz und Franziska Jägerstätter seien Vorbild darin, im Denken und Handeln dem eigenen Gewissen zu folgen.
Coronabedingt wurde das Gedenken anlässlich des 78. Todestages des oberösterreichischen Seligen Franz Jägerstätter, das für gewöhnlich zwei Tage dauert, wie schon im vergangenen Jahr auf einen Tag verkürzt und fand unter Anwendung der 3-G-Regel statt. Etwa 75 Personen aus Österreich, Deutschland, der Schweiz und Italien nahmen daran teil.
Der Innviertler Landwirt und Familienvater hatte sich aus Glaubensgründen geweigert, mit der Waffe für das Nazi-Regime in den Krieg zu ziehen. Daraufhin wurde er vom Reichskriegsgericht in Berlin wegen „Wehrkraftzersetzung“ zum Tod verurteilt und vor 78 Jahren, am 9. August 1943, in Brandenburg an der Havel durch Enthauptung hingerichtet.
Das jährliche Jägerstätter-Gedenken wird von der Pfarre St. Radegund organisiert. Unter den TeilnehmerInnen waren am 9. August 2021 u. a. die Jägerstätter-Töchter Maria Dammer, Aloisia Maier und Rosalia Sigl sowie weitere Familienmitglieder, Jägerstätter-Biografin Erna Putz, Andreas Schmoller und Verena Lorber vom Jägerstätter-Institut der KU Linz, Pastoralamtsdirektorin Gabriele Eder-Cakl, Elisabeth Jungmeier vom Jägerstätter-Beirat und Mitglieder von Pax Christi.
Am Beginn des Gedenkens stand um 14.00 Uhr ein Vortrag von Jägerstätter-Biografin Erna Putz zum Thema „Franziska – eine Frau in Beziehungen“ auf dem Jägerstätterplatz vor der Pfarrkirche St. Radegund. Putz ging darin den Beziehungen und Verbindungen Franziska Jägerstätters in Österreich und im Ausland anhand von Briefen nach, die aus der Zeit nach Franz‘ Tod und aus den Jahren 1960 bis 1990 stammen. Etwa 160 ausgewählte Briefe hatte Erna Putz von Franziska Jägerstätter zu deren Lebzeiten von ihr persönlich erhalten. Den Briefwechsel zwischen dem inhaftierten Franz und Franziska hat Erna Putz als Buch veröffentlicht („Franz Jägerstätter: Der gesamte Briefwechsel mit Franziska. Aufzeichnungen 1941 – 1943“, 2007, Styria Verlag).
Die ersten und dominierenden Beziehungen Franziskas seien jene zu Gott und zu ihrem Mann Franz, die „beide gleich stark“ gewesen seien und einander verstärkt hätten. Der Kreis ihrer Beziehungen sei aber weit über Familie, St. Radegund und über Österreich hinausgegangen. Voraussetzung für die Beziehungsfähigkeit von Franz und Franziska seien die Zuwendung und Liebe gewesen, die beide in ihrer Kindheit erfahren hätten: „Franz und Franziska waren beide geliebte Kinder; auf beiden Höfen wurde gelesen. Beide sahen gut aus, legten Wert auf schöne Kleidung. Franz erbte einen schönen Hof und konnte anders als sein Vater eine Familie gründen. Mit seinem Motorrad machten sie Ausflüge“, schilderte Putz. Zu diesen äußeren Bedingungen einer geglückten Beziehung kam der Glaube hinzu, der beiden wichtig war: „Die beiden beteten und lasen miteinander in der Bibel, die geistliche Erfahrung hat das Glück vertieft.“ Die Kinder hätten das Glück der beiden vollendet: „Franz war der erste Vater im Dorf, der mit dem Kinderwagen ausfuhr.“ Als er einrücken musste und später eingesperrt war, vermissten sie ihn sehr.
Franziska habe die Entscheidungen ihres Mannes respektiert; in keinem der Briefe würden sich Passagen wie „Denk an mich und die Kinder finden“, so Putz. „Sie hat nur gehofft, dass er sich anders entscheiden könne. Beide wissen, wem sie den Partner anvertrauen können.“ Aus dem Briefwechsel gehe hervor, wie eng bei Franz und Franziska die Beziehung zum Partner mit jener zu Gott verbunden und verwoben gewesen sei. So schrieb Franz im März 1943 aus Enns: „Liebste Gattin, bedanke mich nochmals herzlich für all deine Liebe und Treue und Opfer, die du für mich und die ganze Familie gebracht hast. Und für all die Opfer, die du noch für mich bringen musst. Ein schweres Opfer wird es auch werden, dass du niemand zürnen darfst, die dich vielleicht jetzt beleidigen werden, denn die Liebe verlangt es, strebe immer mehr nach Vollkommenheit und es wird dir immer leichter werden. Du weißt wenigstens, wem du deine Schmerzen anvertrauen darfst, die auch Verständnis dafür haben und dir auch helfen können, auch Christus hat am Ölberg zum himmlischen Vater gebetet Er möge den Leidenskelch an Ihm vorübergehen lassen, aber nie dürfen wir dabei vergessen bei diesen Bitten: Herr nicht mein Wille geschehe, sondern der deine.“ Und Franziska antwortete: „Verzagen wir nicht und vertrauen wir auf den lieben Gott, er wird alles zum Besten lenken wie wir am leichtesten in den Himmel gelangen können. Gottes Wille, er geschehe, tut es auch noch so wehe, Gottes Wille er geschehe, wenn ich es auch nicht verstehe. Hatte noch immer eine kleine Hoffnung, vielleicht könntest dich auf der Fahrt noch anders entschließen, weil du mir fürchterlich erbarmst und ich gar nicht helfen kann, werde die liebe Gottesmutter schon recht innig bitten, das sie dich wieder zu uns heimführen wird, wenn es der Wille Gottes ist.“
© Martin Pilgram & FFJI / Andreas Schmoller
Beide seien keine „einsamen Kämpfer“ gewesen, so Putz, sondern hätten die Beziehungen zu Verwandten und Freunden gepflegt, auch mittels Briefen. „Franziska war und blieb bis zuletzt die wichtigste Briefpartnerin von Franz“, so Putz. Wie intensiv die Verbindung zwischen Franz und Franziska war, schilderte Putz anhand dessen, was Franziska ihr über den Todestag von Franz erzählte: „Franziska hat auf dem Feld gearbeitet, es war eine ganz eigenartige Stimmung, Wind hat geweht, die Bäume haben sich geneigt, ‚verneigt‘, hat sie gesagt. Sie konnte nicht mehr arbeiten und ist ins Haus zurück. Am Stubentisch hat sie Schlag vier eine ganz starke Verbindung zu ihrem Mann gespürt. Sie merkte sich die Uhrzeit …“ Diese starke innere Verbindung zu ihrem Mann sei nie mehr abgerissen, betonte Putz, „nach meinem Eindruck keine Stunde ihres Lebens“.
Nach Franz‘ Tod sei es ein großer Trost für Franziska gewesen, dass Mithäftlinge und Priester, die Franz im Gefängnis erlebt hätten, mit ihr Kontakt aufgenommen und seine Haltung gewürdigt hätten. Priester in Österreich und Deutschland hätten sich nach Kriegsende bemüht, das Schicksal Jägerstätters bekannt zu machen. Viele Menschen, die Franz kannten, hätten Franziskas Schmerz geteilt und große Anteilnahme gezeigt, so Putz.
Jägerstätter-Biografien von Gordon C. Zahn und Erna Putz und Axel Cortis TV-Dokumentation „Der Fall Jägerstätter“ hätten später zahlreiche briefliche Reaktionen an Franziska Jägerstätter aus der ganzen Welt ausgelöst. Auch Angehörige anderer NS-Opfer hätten sich immer wieder an Franziska gewendet. Ebenso seien wiederholt Gebetsanliegen an sie gerichtet worden. Putz dazu: „Diese vielfältigen, fast weltweiten Beziehungen hatten für Franziska eine große Bedeutung. Briefe und Besucher freuten Franziska, sehr glücklich war sie auch auf Reisen.“ Ein besonderes Erlebnis war eine Pilgerfahrt nach Rom 1986 mit einer Begegnung mit Papst Johannes Paul II. Kurz vor dem 50. Hochzeitstag sei Franziska zur „Goldenen“ von Freunden eingeladen gewesen. Erna Putz erzählt: „Da ist ihr bewusst geworden, dass sie 43 Jahre allein geblieben war, und sie sagte Franzl, dass sie von ihm schon ein anständiges Hochzeitsgeschenk erwarte. Bald darauf kam mein Anruf bezüglich der Romreise. Diese war für Franziska das Geschenk ihres Mannes zum Hochzeitstag. Er hatte ihr nach der Hochzeitsreise nach Rom ja versprochen, dass beide alle zehn Jahre eine große Reise machen würden. Und noch etwas sagte Franziska bei dieser Gelegenheit: ‚Das Schwere, das Hergeben von so vielem ist durch dich; aber auch das Schöne wie diese Romfahrt kommt durch dich.‘“
Um 16.00 Uhr, zur Todesstunde Franz Jägerstätters, wurde eine von Pax Christi gestaltete Andacht beim Jägerstätter-Denkmal gehalten. Das Denkmal war vor einigen Jahren von Hubert Sigl, einem Enkel von Franz und Franziska, der Kunstschmied ist, entworfen und errichtet worden.
Danach führte eine von der Pfarre St. Radegund begleitete spirituelle Wanderung zum Pestkreuz im Wald – auch als Bezug zur aktuellen Corona-Situation. Monika Auer, Pfarrgemeinderätin in St. Radegund, schilderte Details zum Pestkreuz. Fest steht, dass der Pestfriedhof tatsächlich dort zumindest in der Nähe gewesen ist. Die Anzahl der Toten ist nicht bekannt. Das Kreuz wurde vor einigen Jahren renoviert und wird heute vom Kameradschaftsbund betreut. Für jene, die an der Wanderung nicht teilnehmen konnten, gab es die Möglichkeit zu einer Führung im Jägerstätter-Gedenkhaus und zu einer Stärkung beim Gedankenaustausch.
© Elisabeth Jungmeier & Martin Pilgram
Den abschließenden Gedenkgottesdienst in der Pfarrkirche St. Radegund feierte Pater Christian Marte SJ, Leiter des Jesuitenkollegs in Innsbruck, mit den Teilnehmenden. Musikalisch gestaltet wurde der Gottesdienst vom Kirchenchor der Pfarre. Mit ihm feierten u. a. Bischof em. Maximilian Aichern, der St. Radegunder Pfarrer Markus Menner, Pfarrer Franz Strasser (Altheim), Diakon Johann Hinterreiter (St. Radegund), Diakon Karl Mayer (Dorf an der Pram), Prof. Otto Schwankl (Passau), P. Leopold Strobl (Michaelbeuern) und Father Shimmy (Indien).
In seiner Predigt lud Marte dazu ein, darüber nachzudenken, wo Christinnen und Christen heute nach ihrem Gewissen handeln müssten. Er erinnerte in diesem Zusammenhang an das Nazi-Verbrechen der Euthanasie: die Tötung von behinderten, kranken, alten und gefangenen Menschen: „Franz schreibt Franziska am 27. Februar 1941 aus Ybbs über die Euthanasie-Aktion, über die er von einem lokalen Bauern erfahren hatte. Von Ybbs aus wurden 2.277 Menschen nach Hartheim gebracht und dort vergast. Es gab nur wenige, die sich öffentlich dagegen ausgesprochen haben. Kardinal Clemens Graf von Galen hat am 3. August 1941 in Münster gegen das Euthanasie-Programm der Nazis gepredigt, vor genau 80 Jahren, Bischof Michael Memelauer zu Silvester 1941 in St. Pölten: ‚Vor unserem Herrgott gibt es kein unwertes Leben.‘“
Das Euthanasie-Projekt der Nazis habe eine lange Vorgeschichte gehabt und sei nicht plötzlich gekommen, so Marte. „Die Stimmung in der Gesellschaft war schon ab 1890 so: Wer nichts leisten kann, wer der Gesellschaft nichts bringt und ihr zu Last fällt, dessen Leben ist wertlos. Es war die Zeit des Sozialdarwinismus: Nur die Starken sollen überleben. Es ist wichtig, diese Vorgeschichte der Euthanasie in Erinnerung zu rufen. Ich frage mich, wie das heute bei uns ist, hier in Österreich. Gibt es auch heute Entwicklungen, wo wir als Christinnen und Christen sagen sollen: Nein, da machen wir nicht mit?“
© Martin Pilgram & FFJI / Andreas Schmoller
Der Jesuit thematisierte in diesem Zusammenhang den assistierten Suizid, der durch eine Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs (VfGH) am 11. Dezember 2020 legalisiert worden war. Marte warf den VfGH-Mitgliedern vor, „den bisherigen Schutz vulnerabler Personen vor unfreiwilliger Euthanasie reduziert und die Schwächsten zu wenig berücksichtigt“ zu haben. Viele Menschen fänden Suizidbeihilfe in einer ersten Reaktion in Ordnung – als eine Möglichkeit mehr, das eigene Leben zu gestalten. Marte wörtlich: „So denken Junge, Starke, Gesunde, Selbstständige – mit vielen habe ich gesprochen. Sobald man aber über konkrete Details spricht, fangen sie an zu überlegen. Erst dann wird ihnen bewusst, was das bedeutet: jemanden bei der Selbst-Tötung zu unterstützen.“
Marte forderte ein klares christliches Gegenprogramm und nannte dabei drei für ihn wichtige Punkte. Zunächst brauche es Empathie und Mitgefühl für Menschen mit Suizidgedanken und konkrete Hilfe durch Besuche, Gespräche und medizinische Möglichkeiten der Schmerzlinderung, gerade in den stationären und mobilen Hospizen und Palliativstationen. Zweitens sei Klarheit über das Fünfte Gebot „Du sollst nicht töten“ erforderlich, bei dem es wenig Spielraum gebe – „für Einzelne nicht und auch nicht für katholische Institutionen“. Schließlich, so Marte, brauche es den öffentlichen Einsatz für den Schutz der Schwachen: der älteren, finanziell armen, behinderten, gefangenen und schwer kranken Menschen – auch wenn dies heute nicht populär sei.
Am Grab von Franz und Franziska Jägerstätter könnten ChristInnen die Kraft dafür bekommen, sich mit dem Thema Euthanasie zu beschäftigen und eine Botschaft der Zuversicht zu formulieren, die von einer Kultur des Todes zu einer Kultur des Lebens führe, wie Marte betonte. Er meinte abschließend: „Franz und Franziska Jägerstätter mögen uns gute Fürsprecher sein, damit wir in unserem Denken und Handeln klar bleiben, damit wir unserem Gewissen folgen, auch wenn viele es nicht verstehen und nicht damit einverstanden sind.“
Schlusspunkt des Gedenkens war die Lichtfeier am Grab von Franz und Franziska Jägerstätter.
© Gabriele Eder-Cakl & FFJI / Andreas Schmoller
Am 3. August 2021 jährt sich die berühmte Predigt des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen, die sich gegen den nationalsozialistischen Massenmord an Menschen mit Behinderungen richtete, zum 80. Mal. Im Juli präsentierten der Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim und das Franz und Franziska Jägerstätter Institut der Katholischen Privat-Universität einen Sammelband, der sich den Reaktionen religiöser Menschen und der christlichen Kirchen auf die NS-Euthanasie widmet.
Verena Lorber / Andreas Schmoller / Florian Schwanninger (Hg.):
NS-Euthanasie: Wahrnehmungen – Reaktionen – Widerstand im kirchlichen und religiösen Kontext
Innsbruck-Wien: Studienverlag 2021
162 Seiten, € 19,90
ISBN 978-3-7065-6176-1