Zeit und Ort seiner Geburt kann niemand selber wählen. Ob man lieber in einer anderen Zeit gelebt hätte, ist darum eine müßige Frage. Wir werden in eine bestimmte Spanne der Welt- und auch der Kirchengeschichte hineingestellt. Sie bietet uns Möglichkeiten, setzt uns Grenzen, weist uns Aufgaben zu und fordert unser verantwortliches Handeln heraus. Diese Zeit ist uns von Gott zugeteilt. „Die Zeichen der Zeit zu erkennen“, ist eine der markanten Weisungen des 2. Vatikanischen Konzils. Es geht um verantwortliche Zeitgenossenschaft.
Franz Jägerstätters Leben fiel in eine Zeit großer politischer Umwälzungen, die durch den heraufziehenden Nationalsozialismus, den Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland sowie den beginnenden Zweiten Weltkrieg geprägt waren. Diese Entwicklung erfüllte den gläubigen Mann, dem ein waches Gewissen eigen war, mit tiefer Sorge und innerem Widerstand. Er sah in dem neuen Regime eine ernste Gefahr für Freiheit und Menschlichkeit wie auch für das Christentum. Der Widerspruch zu seiner Heimatliebe, seinem rechtschaffenen Denken und seinem Glauben war für ihn so groß, dass er es mit seinem gläubigen Gewissen nicht vereinbaren konnte, für Hitlers Ziele in den Krieg zu ziehen. Er hat sich diese Entscheidung angesichts der schwerwiegenden Folgen, die ihm und seiner Familie drohten, keineswegs leicht gemacht. Obwohl er nach außen hin nichts bewirken konnte, wollte er sich der „Gnade“ dieser Einsicht, in der er seine persönliche Berufung erkannte, nicht verweigern.
Die äußere Lebensgeschichte Franz Jägerstätters ist inzwischen weithin bekannt. Wenn wir nach den Motiven fragen, die ihn bis auf seinen Gang zur Hinrichtungsstätte geleitet haben, dann finden wir eine klare und beeindruckende Antwort in seinen Aufzeichnungen und Briefen, die glücklicherweise auf uns gekommen sind.
I. Liebe zu Gott
Als tiefstes Motiv begegnet uns darin seine Liebe zu Gott, und zwar zu Gott, der uns in Jesus Christus, näherhin durch sein Leiden und Sterben erlöst und zum ewigen Heil berufen hat. Es ist der Gott der Liebe, der unser ganzes Vertrauen verdient, auch wenn wir die Wege seiner Vorsehung nicht kennen, und nach dessen Wegweisungen wir unser Leben und Handeln auszurichten haben, um unser ewiges Ziel zu erlangen. „Wenn wir nur in der Liebe Gottes bleiben können“, ist sein Bestreben und sein Trost. Alles steht für Franz Jägerstätter unter der Maxime der Liebe zu Gott. Diese Liebe befähigt, Gott mehr zu gehorchen als Menschen. In dem christlichen Grundgebot der unbedingten Gottesliebe, das wir heute in der ersten Lesung aus dem Alten Testament (Dtn 6,2-6) gehört haben, und das Jesus ausdrücklich bestätigt hat, ist für Jägerstätter alles zusammengefasst.
II. Vertrauen auf Gott
In diesem Gebot ist für ihn das unbegrenzte Vertrauen darauf eingeschlossen, dass „Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt“. „Nicht Kerker, nicht Fesseln, auch nicht der Tod sind imstande, einen von der Liebe Gottes zu trennen“. Als Franz Jägerstätter diesen Satz aus dem Römerbrief des Apostels Paulus niederschreibt, den uns vorhin die zweite Lesung (Röm 8,31b-39) in Erinnerung gerufen hat, sind tatsächlich seine Hände gefesselt und steht ihm der gewaltsame Tod vor Augen. In dieser Situation einer äußersten Not und Einsamkeit, in der er sich erlebt, sind ihm diese Worte wie ein Schlüssel, der ihm den letzten Sinn seines Leidens eröffnet, und wie ein Geländer, an dem er gegen alle mögliche Verunsicherung Halt findet. Er vertraut darauf, dass „Gott“, wie er schreibt, „ihn auch in seiner letzten Stunde nicht verlassen wird“ und in seinen Himmel aufnimmt.
III. Nachfolge Jesu
1. Die Liebe Gottes bedeutet für Franz Jägerstätter aber nicht nur Geborgenheit und Trost, sondern auch einen Anspruch. Sie erlaubt keine Gleichgültigkeit oder Nachlässigkeit, sondern verlangt die klare Unterscheidung von Gut und Böse. Deshalb nimmt Franz Jägerstätter die Sünde als Zurückweisung dieser Liebe und damit als Verlust des Heiles ungemein ernst. Sie ist für ihn „das größte Übel und Unglück, das es für uns Menschen überhaupt gibt“. Mehr noch aber geht es ihm um ein aufrichtig gelebtes Christsein, das diesem Namen gerecht wird. „Christ sein ist“ nach seinen eigenen Worten „der höchste Beruf, den es auf dieser Welt gibt“. Christen sollen den Glauben bezeugen und dadurch in die Welt hinein wirken. Jahre vor dem Konzil lesen wir bei ihm, es sei „nicht bloß Pflicht einzelner, nach Heiligkeit zu streben, sondern aller“; dies aber sei nichts anderes „als Gottes Willen in allem zu erfüllen“.
a) Dabei hat für Franz Jägerstätter die Liebe zum Nächsten einen besonderen Rang: die Liebe, die mit den Leidenden und Gequälten fühlt, die sich der Armen annimmt und nicht zuletzt zum Verzeihen bereit ist. Wiederholt mahnt er, zu verzeihen und niemandem zu zürnen. Dazu gehört für ihn, das Urteil über andere Gott zu überlassen.
b) Franz Jägerstätter ist sich auch der Mitverantwortung aller für die politischen Geschehnisse bewusst. Der Nationalsozialismus mit seiner kirchenfeindlichen, menschenverachtenden und totalitären Ideologie bedeutet für ihn eine aktuelle und dringliche Herausforderung an die einzelnen Christen. Wacher Sinn, kritische Unterscheidung, klare Entscheidung und Standfestigkeit sind gefragt. Die Bildung eines wohlbegründeten, letztlich eigenständigen Gewissens, das sich vom „Strom“ der Mehrheitsmeinungen nicht mitreißen lässt und sich auch nicht blind einem Gehorsam verschreibt, sind ihm unverzichtbar. Zu fragen sei stets: „Ist es auch Gott wohlgefällig, was ich tue“.
c) Diesem Gewissen zu folgen, kann Bekennermut erfordern, ja sogar – gleich den Christen der ersten Jahrhunderte – die Bereitschaft zum Martyrium. Die Ehrfurcht vor Gott muss größer sein als die Furcht vor Menschen. Keine menschlichen Rücksichten rechtfertigen es, Gott zu beleidigen. Das herausragende Beispiel dafür ist uns nach Jägerstätter in Jesus Christus vor Pilatus gegeben. „Sollten wir denn nicht wahre Nachfolger Christi werden?“, fragt er sich selber und gibt diese Frage an uns weiter.
2. Den Ruf zur Nachfolge Jesu hat Franz Jägerstätter auf sein Leben bezogen. In einer Zeit ernster Bedrohung von Glaube und Kirche, einer erschreckenden Missachtung der Menschenwürde sowie der Zerstörungen eines mörderischen Krieges mahnt er in bewegenden Worten zum Glaubenszeugnis, zur Wahrhaftigkeit, zur Gerechtigkeit, zum Gewaltverzicht und zum Frieden. Gerade der Friede unter den Völkern wie unter den Mitmenschen ist ihm ein dringliches Anliegen.
Wie oft mag er die Seligpreisungen der Bergpredigt Jesu, die wir soeben im Evangelium (Mt 5,1-12a) wiederum vernommen haben, gehört, gelesen und überdacht haben! Sie sind Wegweisung in eine andere, neue Welt und sind Zumutung eines anderen, neuen Umgangs miteinander, und zwar „Zumutung“ in dem doppelten Sinn des Wortes: Sie sind provozierender Anstoß zu einem Verhalten, das vielen gegen den Strich geht, und sie sind Ermutigung, sich auf ein neues Denken und einen neuen Weg des Miteinander einzulassen. Sie bilden eine Alternative zu den gängigen, aber nicht weiter führenden Denkmustern und Praktiken und verweisen zeichenhaft auf die Wirklichkeit des Reiches Gottes, die sie bereits in dieser Welt erfahrbar machen.
Mit dem vielfachen „Selig sind die, die …“ so handeln, bestätigt und ermutigt Jesus jene, die diesen Weg wählen, und verheißt ihnen Zukunft bei Gott. Es ist eben nicht ungeschickt, unklug oder unsinnig, sich an diesen Seligpreisungen zu orientieren, denn sie führen, wie es heißt, in das „Himmelreich“.
Im Vertrauen auf Jesu Verheißung hat Jägerstätter auch Unverständnis und Ablehnung, Verfolgung, Misshandlung und Hinrichtung nicht gescheut. Mit seiner Seligsprechung stellt die Kirche ihn uns vor als einen, dem die Seligkeit des Himmels zuteil geworden ist. In der Gemeinschaft all der Seligen und Heiligen des Himmels ist Franz Jägerstätter zugleich ein erhellendes, hoffnungsvolles und Mut machendes Licht- und Wegzeichen , das Gott unserer Zeit – mit ihren eigenen Herausforderungen – aufgesteckt hat. Amen.
Diözesanbischof Dr. Ludwig Schwarz