Stefan Schlager: Engel aus Afrika
Kurz nachdem der Schaffner unsere Karten gezwickt hatte – es war wohl auf der Höhe von Marchtrenk – hörten wir ein leises Grölen. Dieses Grölen wurde immer lauter, bis es schließlich unser Abteil erreichte. Junge Männer – in grün-weiß gekleidet – traten ein. Ihre Gesichter glichen Radarschirmen, die hellwach auf der Suche nach einem unbekannten Objekt waren. Und endlich fanden sie ihr Ziel. Wir wurden ins Visier genommen. Wie eine Menschenschlinge, die sich immer mehr zusammenzog, kamen die Fans nun auf uns zu. Im Takt ihrer Schritte hörten wir beleidigende Worte und provozierende Laute. Schließlich streiften uns Schultern. Offensichtlich suchten sie für ihren Frust ein Ventil.
Beim Versuch, einen zu nahe Gekommenen abzuwehren, zerriss einer meiner Brüder ein grün-weißes Trikot. Lautstark beklagte der davon Betroffene sein „zerrissenes Heiligtum“. Die Folge war: noch mehr Zorn, noch mehr Aggression - und nirgendwo ein Schaffner.
Es gelang uns mit Mühe, das Abteil zu verlassen. Im menschenleeren Gang entdeckten wir endlich den Zugbegleiter, doch dieser zog sich – als er die Situation erkannte - in sein Abteil zurück. Dienst nach Vorschrift. Gott sei Dank spielte die Zeit in unsere Hände. Der Zug erreichte Linz und wir konnten – knapp vor unseren Verfolgern – den rollenden Käfig verlassen. Wir eilten nach dem Bahnsteig die Treppen hinab, hetzten durch die Unterführung – Richtung Haupteingang – an Passanten vorbei. Niemand aber half uns. Es schien, als wäre alle Hilfsbereitschaft - den beiden Löwen gleich – versteinert. Nur einer ließ uns nicht im Stich.
Vor uns sahen wir einen Zeitungsverkäufer. Dieser verstand die Situation sofort und wies uns mit einem deutlichen Zeichen Richtung Café-Bar, vor der er stand. Hier sollten wir Schutz suchen. Um uns die nötige Rückendeckung dafür zu verschaffen, stellte sich der Zeitungsverkäufer – ein schmächtiger, dunkelhäutiger Mann – den Verfolgern in den Weg. Mit seinen Zeitungen machte er eine Barriere und hielt uns unter Einsatz seiner Hände und Füße den Weg frei. Auf diese Weise gelangten wir in das Café – in Sicherheit. Hier riefen wir, da es damals noch keine Handys gab, ein Taxi an. Die ganze Zeit hindurch aber schützte uns der kleine Afrikaner vor dem Eindringen der Meute. Erst als wir im Taxi saßen, verloren wir uns aus den Augen.
Ich habe diesen Mann nicht mehr wieder getroffen – aber seinen Mut vergesse ich bis heute nicht - sein großes Herz, sein Eintreten für Menschen, die er nicht einmal kannte. Im Hebräer-Brief gibt es einen bemerkenswerten Satz: „Vergesst die Gastfreundschaft nicht; denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt.“ (Heb 13,2). Übrigens: Heute befindet sich nicht weit von dieser Stelle das Postverteilerzentrum, wo im letzten Jahr viele Menschen auf ihrer Flucht Quartier für eine Zeitlang fanden.
Stefan Schlager