Engel als Grenze
Dabei schließt sich diese Vorstellung an die vorangegangene an, im Mittelpunkt steht weiter ein Begehren, das nicht erfüllt werden kann. Doch ist der Ort nicht verloren, sondern verschlossen. Anstatt eines Begehrens, das keinen Ort mehr weiß, ist dieser nun verwehrt.
Die Vorstellung von geflügelten Wesen und Mischwesen, die ein himmlisches oder irdisches Heiligtum bewachen, hat eine lange Tradition. In den biblischen Erzählungen tritt ein Cherub, der nach der Vertreibung das Paradies mit dem flammenden Schwert bewacht, bereits am Beginn der Geschichte der Menschheit auf. Damit ist die Erfahrung eines königlich-paradiesischen Gartens zum Traum geworden, zum Ort der Sehnsucht, der unwiederbringlich verloren ist.
In jenen Gedichten, die diese Vorstellung aufgreifen, verändert sich die Verweisfunktion des Engels, er wird nun zu einem Teil des Systems, das er beschützt und auf das er verweist. Die Sehnsucht entfaltet sich hinter dem Rücken des Wächterengels. Es geht um die "Überwindung" des Engels und damit des Systems, das dieser repräsentiert. Im Vergleich zur biblisch-altorientalischen Funktion erweist sich das als ein Perspektivenwechsel. Nicht der Schutz, sondern die Ausgrenzung und in der Folge auch deren Überwindung stehen im Zentrum des Interesses.
Quellenangabe:
Aus: "Sie reden die Luft zwischen den Wörtern" (Härtling). Biblisch-lyrische Gespräche über Engel von Prof. Susanne Gillmayr-Bucher (KTU Linz) erstmals erschienen in: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 30 (2011), 55-67.
Bild: Christel Holl - Erzengel Michael. © Beuroner Konstverlag (www.klosterkunst.de)