Mutter und Religion
Das Werk, dem Johann Wolfgang von Goethe mit diesen Zeilen übermenschliche Qualitäten zusprach, war eine Mutter-Kind-Darstellung. Dass es nicht irgendeine gemalte Mutter war, der Künstler und Schriftsteller über Generationen hinweg eine überirdische Aura zusprachen, versteht sich von selbst: Ein gemalter grüner Vorhang öffnet den Blick auf eine Szenerie, in der die heilige Mutter Maria mit dem Jesusknaben auf einem Teppich aus Wolken schwebt. Sie hält den Jungen zärtlich im Arm, die Gesichter von Mutter und Kind berühren einander. Begleitet wird die Gottesmutter von der Heiligen Barbara und dem Heiligen Sixtus. Am unteren Rand schließen zwei sich an der Brüstung aufstützende Engel das Geschehen ab. Der Hintergrund wirkt durch eine Mischung aus Engelsköpfen und Wolken buchstäblich himmlisch.
Die 1512 gemalte "Sixtinische Madonna" von Raffael erschien den Romantikern im 18. Jahrhundert sowohl das Motiv als auch die illusionistische Darstellungsweise betreffend, so vollkommen, dass sie eine Wunderlegende in Umlauf setzten. Raffael soll das Meisterwerk erst vollendet haben, nachdem ihm die Mutter Gottes im Traum als himmlische Vision erschienen war.
Es ist kein Zufall, dass gerade eine Mutter-Kind-Darstellung derart vergöttlicht wurde. Schließlich ist das Christentum die einzige der drei monotheistischen Religionen, in denen neben der Verehrung von männlichen Gottes-Bildern die Verehrung einer Frau, der Gottesmutter Maria, toleriert und gefördert wurde. Als herzende oder stillende Mutter, vor allem aber als Schutzmantelmadonna, fungiert Maria auf Bildern als gütiger, mütterlicher Gegenpol des strafenden Vaters. Eine Rolle, die im 20. Jahrhundert auf Bildern kritisch hinterfragt wurde. Als etwa Max Ernst 1926 einen Tabubruch beging und eine strafende Gottesmutter auf die Leinwand pinselte. Das Bild trägt den provokanten Titel: "Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen".
Quellenangabe:
Schwanberg, Johanna: Mutter und Innigkeit. In: kunst und kirche, Nr. 03/2010. S. 39.
Erstmals erschienen in:
Präsidium des Evangelischen Kirchbautages, in Verbindung mit dem Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart an der Philipps-Universität Marburg, Deutschland, vertreten durch Prof. Dr. Thomas Erne und Diözesan-Kunstverein Linz, in Verbindung mit dem Institut für Kunstwissenschaft und Philosophie, Katholisch-theologische Privatuniversität Linz, Österreich, vertreten durch Prof. DDr. Monika Leisch-Kiesl (Hrsg.) (2010): kunst und kirche: Mutter unser - Suche nach Mutterbildern in der Kunst. Nr. 3/2010. Wien/New York: Springer.
(sp)