In Kreuz und Tod: Gottes Nähe?
Von Buddha wird erzählt, dass er mit 80 Jahren versehentlich an einer Lebensmittelvergiftung gestorben sei. Vor seinem Tod erwiesen ihm noch die Vornehmen aus der Gegend die Ehre. Er nahm einen letzten Mönch in seine Gefolgschaft auf und verstarb schließlich mit einem weisen Wort auf den Lippen. Sokrates wiederum, einer der bemerkenswertesten Philosophen der Antike, starb im Alter von 70 Jahren. Er wurde im Jahr 399 vor Christus zum Tod verurteilt. Unmittelbar vor seiner Hinrichtung soll Sokrates mit seinen Vertrauten noch über die Unsterblichkeit der Seele diskutiert haben, dann leerte er – ruhig, besonnen, ja fast heiter – den Giftbecher und starb. Ein schöner, wenn auch unvorhergesehener Tod ereilte Muhammad. Er hauchte am 8. Juni 632 nach Christus sein Leben in den Armen seiner Lieblingsfrau Aischa aus. Zum Zeitpunkt seines Todes war der 62-jährige religiöser und politischer Führer über fast die gesamte Arabische Halbinsel.
Alles stand auf dem Spiel
Ganz anders war es bei Jesus von Nazaret. Er starb nicht alt, nicht geachtet, nicht im Kreis seiner Gefährten. Er hauchte sein Leben auch nicht würdevoll aus, sondern „krepierte” als Hingerichteter unter Schmerzen – nackt, bloßgestellt, scheinbar von Gott verlassen, einsam. Jesus selbst wollte diesen Tod nicht. Er bat am Ölberg sogar leidenschaftlich um Verschonung und Rettung vor dem Tod. Trotz der vorhersehbaren tödlichen Konfrontation, die Jesus spätestens durch seine Tempelkritik auslöste, ist er in Jerusalem geblieben.
Jesus blieb in der Bedrohung, weil für ihn Gott und seine so ganz andere Herrschaft auf dem Spiel standen: Der Gott, von dem Jesus nicht abrückte, auf den er sich fest-legen, ja „fest-nageln” ließ, aber ist ein Gott, der freudig Vergebung schenkt – unabhängig von alteingesessenen Instanzen. Sein Gott ist ein Gott, der auf Menschen zugeht, ihnen sogar nachgeht, sie sucht. Dieser Gott legt nicht unnütze Bürden auf. Er erschwert Leben nicht. Im Gegenteil: Wo Gott ist, bekommen Menschen vielmehr einen neuen Zugang zum Leben, zu den Mitmenschen, zu Gott. Das Kreuz zeigt also, wie ernst es Jesus mit all dem war. Er entfernte sich keinen Millimeter von seiner Überzeugung.
Das Kreuz verbindet
Zwei Erfahrungen haben mir im Besonderen einen Zugang zum Gekreuzigten und zur Botschaft des Kreuzes eröffnet: Mein Vater erlitt 1988 einen schweren Gehirnschlag. Er verlor dabei sein Sprachzentrum und konnte nicht mehr sprechen, nicht mehr lesen oder alles verstehen. Er war rechtsseitig gelähmt und bis zu seinem Tod mit 51 Jahren beim Essen, Gehen, Baden, Anziehen auf die Hilfe meiner Mutter angewiesen. Trotz Überforderung, trotz Enttäuschung, trotz Aussichtslosigkeit der Lage erlebte ich, wie nahe uns in dieser Zeit der Gekreuzigte kam, wie viel Kraft von ihm ausging – von ihm, der am eigenen Leib Begrenzung, Leid, Aussichtslosigkeit und Tod erfahren hatte. Ich entdeckte Jesus, den Gekreuzigten, als Mit-Leidenden, als Mit-Tragenden, als Mit-Lebenden.
Zum zweiten Mal erahnte ich die Nähe des Gekreuzigten zwischen den Schläuchen der Beatmungsmaschine und der Blutwaschanlage meines Schwiegervaters. Wochenlang lag er – aufgrund einer Hirnblutung – auf einer Intensivstation im Koma. Als er unerwartet wieder aufwachte, durften wir noch sieben gemeinsame Monate erleben, zwei davon sogar zu Hause. „Ich bin da, ich lasse euch nicht alleine, weil ich selbst Leid, Angst, Einsamkeit und Tod kenne” – darin liegt für mich eine der wichtigsten Botschaften des Kreuzes.
Quelle: Stefan Schlager, Theologische Erwachsenenbildung