Jesus, der Jude
Altarlesung Jesaja 2
1 Dies ist's, was Jesaja, der Sohn des Amoz, geschaut hat über Juda und Jerusalem:
2 Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des HERRN Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben, und alle Heiden werden herzulaufen,
3 und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns auf den Berg des HERRN gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem.
4 Und er wird richten unter den Heiden und zurechtweisen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.
5 Kommt nun, ihr vom Hause Jakob, lasst uns wandeln im Licht des HERRN!
Predigttext Mattäus 5
17 Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.
18 Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht.
19 Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich.
20 Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht größer ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.
Die Stelle aus dem Matthäusevangelium klingt ja wirklich ungewohnt. Wir sind es stets gewohnt, das Neue in Jesus zu sehen: den neuen Bund, eine neue Botschaft, einen neuen Frieden, eine neue Nächstenliebe – besser als alles Bisherige. Aber hier verweist Jesus ganz auf das Alte, er bestätigt das Bestehende: Bis Himmel und Erde vergehen, wird das Gesetz Bestand haben, bekräftigt Jesus. Wir kennen dieselbe Bekräftigung aus dem Lukasevangelium (Lk 16,17). Das klingt gerade für protestantische Ohren provokant, wird doch gerade in dieser Tradition Gesetz und Evangelium vielfach als Gegensatz verstanden.
Heute geht es um "Jesus, den Juden" im dritten Teil Ihrer Predigtreihe „Mein Jesus“. Und es ist wichtig, dass jeder und jede einen eigenen Zugang zu Jesus findet und sich in seine Nachfolge stellt. Die Gefahr ist aber, dass ich mir „meinen Jesus“ zu sehr nach meinen Vorstellungen zurechtbiege. Und so haben wir uns bisweilen zu oft unseren eigenen – christlichen – Jesus gemacht, als zu sehen, was er ist: nämlich ein Jude, der sein ganzes Leben lang in der Religion seines Volkes verwurzelt blieb. Die Kirchen, die Theologen und vielleicht auch wir selbst haben ihn jedoch immer wieder in den Gegensatz zu seinem Volk und seinem Glauben gestellt: Jesus hätte etwas Neues gebracht, er hat das Judentum vollendet, ja es gar überboten oder für obsolet, für überholt erklärt.
Heute aber: Jesus der Jude. Was charakterisiert einen Juden oder eine Jüdin? Dass er oder sie Kind einer jüdischen Mutter ist, ihm die Tora als Weisung des Ewigen vom Sinai gegeben ist, und dass ein Mann beschnitten ist – als Zeichen des Bundes. All diese Kriterien treffen auf Jesus zu. [Die Beschneidung Jesu feiern wir am 8. Tag nach der Geburt – am 1. Jänner, im Anschluss an eine Überlieferung des Lukasevangeliums (Lk 2,21).]
Sehen wir uns unter diesem Blickwinkel einige Punkte aus unserem Predigttext genauer an.
„Ich bin gekommen, Gesetz und Propheten zu erfüllen“, sagt Jesus. Das Gesetz, das ist die jüdische Tora in den Fünf Büchern Moses, die Weisung Gottes für das Leben. In der lateinischen Übersetzung wurde das missverständlich und einengend mit dem juristischen Begriff Gesetz übersetzt. Deutet dieses Wort Jesu nicht darauf hin, dass das Alte vorbei ist? Nun ja, wenn Sie erfüllen so verstehen, wie eine Bitte am Frühstückstisch: „Gib mir mal die Butter rüber. Danke.“ Aufgabe erfüllt – alles vorbei und erledigt. Im Lukasevangelium (Lk 4,16-20) liest Jesus bei seinem ersten Auftritt in der Synagoge von Kafarnaum einen Abschnitt aus dem Profeten Jesaja: Gefangene werden frei, Blinde sehen und ein Gnadenjahr des Herrn ist ausgerufen. Dann sagt Jesus: „Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.“ Nicht aufgehoben, sondern erfüllt. Hier in dem Sinn: Es wird bekräftigt, es kommt zu neuer Geltung, es wird bestätigt. Das klingt ganz anders als unsere gewohnte Lesart, dass das Alte vorbei sei.
Und weiter, wie ist denn das mit den Pharisäern und Schriftgelehrten? Stehen die nicht für das alte Gesetz und werden diese nicht kritisiert? Uns ist diese Gruppe oft als die Gegnerschaft Jesu schlechthin nahegebracht worden. Und hat Jesus da nicht eine ganz andere Botschaft gebracht? Unsere heutige Stelle sagt: „Wenn eure Gerechtigkeit nicht größer ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ Es ist zunächst eine Aufforderung an uns, es geht um unser Tun: Unsere Gerechtigkeit sei größer.
Auch wenn es uns nicht so bewusst ist, Pharisäer werden im Neuen Testament oft positiv dargestellt: Bei Lukas ist Jesus in Haus eines Pharisäers zu Gast (Lk 7,36), bei Johannes wird uns Nikodemus als Pharisäer und Anhänger Jesu vorgestellt (Joh 3) und der Pharisäer Gamaliel verteidigt in der Apostelgeschichte den neuen Glauben (Apg 5,35). Und Jesus selbst sagt (Mt 23,2f): „Auf dem Stuhl des Mose sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer. Alles nun, was sie euch sagen, das tut und haltet.“ Für Jesus ist klar: Das Gesetz des Mose braucht eine Auslegung und die Pharisäer legen dies korrekt aus. In weiterer Folge kritisiert Jesus allerdings, dass die Pharisäer nicht tun, was sie predigen. „Wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich“, steht in unserem Predigttext. Beim Lehren sind die Pharisäer groß da, beim Tun hapert es – aber wohl nicht nur bei jenen. Bei jeder und jedem von uns auch. Darum ja Jesu Aufforderung an uns: Eure Gerechtigkeit sei größer …
Die Bekräftigung der Verbundenheit mit dem Gesetz, der Tora, steht bei Matthäus in der berühmten Bergpredigt. Der unauflösliche Bezug zum Gesetz ist der Schlüssel, mit dem wir diese programmatischen Worte am Anfang der Wirkungszeit Jesu lesen sollen.
Nun höre ich aber schon Ihren Widerspruch. Gleich nach diesem Abschnitt kommen doch die so genannten „Antithesen“. Vom Ehebruch, vom Schwören, vom Töten, von der Vergeltung, von der Feindesliebe. Eindringlich sind Jesu Worte: „Ich aber sage euch …!“ Stellt er sich da nicht selbst gegen das Gesetz, stellt er da nicht seine neuen Gebote gegen die alte Tradition?
Die Überschrift „Antithesen“ ist ein Titel, den die christliche Theologie diesem nächsten Abschnitt gegeben hat. Die Absicht dabei (wie Sie sich vielleicht schon denken können): den Gegensatz der Predigt Jesu zur Tora darzustellen – trotz dessen klaren Bekenntnisses zur Tradition gerade vorher – unserem Predigttext. Wenn wir diese Stelle aus den jüdischen Traditionen verstehen wollen, müssen wir daran denken, dass es zum Judentum dazu gehört, über die richtige Auslegung der Tora zu diskutieren, zu ringen, ja zu streiten. Sie kennen diese Diskussionen in den Evangelien, was am Schabbat erlaubt ist, oder die Klärung, wer ist mein Nächster? Lukas (Lk 10,25-28) überliefert uns solch eine Szene:
„Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf […] und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« (5.Mose 6,5; 3.Mose 19,18). Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.“
Und wieder geht es um das richtige Tun des Gesetzes, der Tora. Der Talmud ist voll von diesen Diskussionen, tausende von Seiten mit Details bis ins Kleinste. Das ist spannend zu lesen, wie dort um den rechten Weg gerungen wird. „Ich aber sage euch“ könnten wir auf dem Hintergrund der hebräischen Tradition auch so übersetzen: „Ich lege das jetzt so aus“. Nach den Evangelien hat Jesus die Tora weder abgeschafft noch überboten. Er hat sie ausgelegt.
Sie sehen, wir müssen unsere Lesegewohnheiten der Heiligen Schrift bisweilen ändern, um Jesus auf seinem jüdischen Hintergrund zu verstehen, und ihn nicht mit unserem christlichen Blick gegen sein eigenes Volk und seine Religion zu stellen. Aber was bedeutet das nun für uns? „Mein Jesus“ heißt die Predigtreihe. Wie wird der Jude Jesus zu „meinem Jesus“?
Wir dürfen Jesus nicht kopieren, wir müssen nicht Jüdinnen und Juden werden. Wir folgen ihm nach. Wir folgen nicht irgendwem nach, irgendeiner Idee, einem Geistwesen, sondern dem Juden Jesus aus Nazareth. Wohin?
Der Text der heutigen Altarlesung weist uns die Richtung: Am Ende der Tage werden alle Völker hinziehen nach Jerusalem, zum Zionsberg. Nicht nach Wittenberg, nicht nach Rom, nicht ins Paradies auf die Malediven und nicht hin zum eigenen Ich. In Jerusalem werden alle die Weisung des Ewigen zum Leben erhalten.
Die Vision des Jesaja ist ein Bild, mit dem die frühe Kirche ihre Sendung verstanden hat: Die Endzeit ist angebrochen, den Armen wird die Frohe Botschaft verkündet, der Tod ist in Jesus überwunden und die Heidenvölker – das sind wir, die Nicht-Juden – sammeln sich und richten ihren Blick auf Zion. Die Heiden erkennen, dass sie „Miterben sind und mit zu seinem Leib gehören und Mitgenossen der Verheißung in Christus Jesus“, wie es der Epheserbrief schreibt (Eph 3,6). Der Tora-Lehrer Jesus ist unsere Brücke zum Judentum.
Das Judentum ist aber nicht einfach eine historische, vergangene Größe oder ein folkloristischer Verein, der schöne Feste feiert. Das Judentum ist konkret gegenwärtig in seinen Gemeinden. Durch die Schrecken und Vernichtung der Schoa ist es bei uns nicht mehr so präsent wie einst – auch hier in Stockerau – aber es gibt jüdisches Leben in unserem Land. Es sind Menschen, die nach den Verheißungen Gottes leben, deren Zeugnis dieselbe Schrift ist, die wir Altes Testament nennen. Und unser Herr Jesus Christus ist ein Sohn dieses Volkes. Die Wertschätzung jüdischen Lebens, die Unterstützung jüdischer Gemeinden ist etwas, wohin der Jude Jesus uns heute führt. Natürlich braucht es dazu bei den Kirchen und ihren Mitgliedern eine Gesinnung der Demut und Buße, denn es waren nicht Schicksalsschläge, die jüdisches Leben in unserem Raum mehrmals in der Geschichte vernichtet hab en, sondern konkrete Menschen, Christinnen und Christen, die gemeint haben, mit der Vertreibung und Vernichtung von Juden ihrem Herrn und ihrem Glauben einen Dienst zu erweisen. Heute wissen wir, so zu denken und zu handeln war falsch; es war sündhaft, also eine Perversion unseres Verhältnisses zu Gott.
Und Jesus führt uns zum bleibenden Wert des Gesetzes, der Tora. Wir haben uns im Christentum vor allem die Zehn Gebote zu Eigen gemacht. Der Jude Jesus ermutigt uns, den Blick über diese Zehnzahl hinaus zu richten: Das Judentum kennt 613 Gebote der Tora. Da können wir von den jüdischen Gemeinden lernen, aus dieser Fülle zu schöpfen – nicht sie zu kopieren, sondern zu lernen, was ihre Auslegung für uns heute bedeuten könnte. So wie Jesus es zu seiner Zeit gemacht hat. Eine Liebe zur Tora als Geschenk des Ewigen, wie es bei unseren jüdischen Schwestern und Brüdern erleben.
Und wohin soll das alles führen? Lassen wir noch einmal den Propheten Jesaja sprechen: „Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.“
Das wäre doch etwas!
Amen.
Stockerau – Lutherkirche
26. Oktober 2014, Markus Himmelbauer