"Steh auf Menschenkind und stell dich auf deine Füße: Ich will mit dir reden. Ich sende dich."
Vor gut 400 Jahren hatte eine Frau, Mary Ward heißt sie, eine Vision. Sie hatte die Vision, dass Mann und Frau gleichwürdige und damit gleichwertige Geschöpfe sind. Weil sie von ihrer Vision überzeugt war, darum förderte sie junge Frauen, ihre Talente und Fähigkeiten. Viele Schulen in der ganzen Welt haben in dieser Vision der Mary Ward, ihren Ursprung. Wenn heute politisch und gesellschaftlich den meisten Menschen bewusst ist, dass Männer und Frauen die gleiche Würde und die gleichen Rechte zustehen, dann war Mary Ward sicher ein sehr wichtiger Schritt von vielen Schritten. Mary Ward handelte und dachte ganz anders als viele Menschen ihrer Zeit.
Gibt es sie, die Prophetinnen und Propheten unserer Tage? Wer tritt heute die Nachfolge von Miriam, Jeremia, Jesaja, Ezechiel, Judith und Deborah an? Ist es nicht höchste Zeit? Greta Thunberg soll eine sein, Alexj Nawalny, Mutter Teresa sowieso und sicher auch Mahatma Gandhi? Für nicht wenige sind und waren sie "Lichtgestalten", Vorbilder oder Propheten. Moment mal, sind Propheten nicht diese verstaubten Gestalten aus dem Alten Testament, die die Zukunft vorhersagten und doch erfolglos blieben? Was hat das mit den eben genannten Umwelt- und Friedensaktivisten, mit der Ordensfrau und dem Menschenrechtler zu tun? – Eine ganze Menge. Denn genau genommen ist ein Prophet einer, der nicht die Zukunft voraus sagt, sondern einen wachen, klaren, kritischen Blick auf die Geschehnisse in unserer Zeit hat. Prophetinnen und Propheten sind Menschen, die die Probleme beim Namen nennen, den Finger in die Wunde legen und keine Angst haben, den Machthabern die unbequeme Wahrheit ins Gesicht zu sagen. Niemand anderes als ein Prophet hat den Mut, Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Irrglauben beim Namen zu nennen, auch wenn er oder sie dafür einen hohen Preis bezahlen muss, manchmal sogar das eigene Leben aufs Spiel zu setzen. Aber aufgepasst: Nicht jeder Querulant ist ein Prophet. Wenn wir in die Bibel schauen, gibt es ganz bestimmte Kriterien dafür. Der Prophet Ezechiel erzählt: In jenen Tagen, schaute ich die Herrlichkeit des Herrn. Da hörte ich die Stimme, sie sagte zu mir: Steh auf Menschenkind, stell dich auf deine Füße; ich will mit dir reden. Da kam Geist in mich, als er zu mir redete, und er stellte mich auf meine Füße. Er sagte zu mir: Menschenkind, ich sende Dich!“
Am Anfang der Prophetie des Ezechiel steht eine „umwerfende“ Begegnung mit Gott. Ein Hinschauen, ein Zuhören, ein Ergriffen sein von einer Kraft und Weisheit, die mehr ist als ich selber. Bei vielen Prophetenerzählungen hören wir, dass der Prophet sagt: Ich bin doch viel zu jung, such dir einen anderen, ich kann das nicht! Und Gott sagt: Ich werde bei dir sein und dir meine Worte in den Mund legen. Du wirst ausreißen und zerstören, aufbauen und neu pflanzen, wie ich es dir sage!
Und dann gibt es einen Auftrag von Gott Aufträge sind keine selbstgewählten Aufgaben. Manchmal werden sie vor unsere Füße gelegt, manchmal stolpern wir darüber, manchmal sträubt sich alles in uns. Propheten sind keine Besserwisser. Sie sind suchend und fragend unterwegs, machen Fehler, geben auf, tauchen unter. Gott sagt: Steh auf, stell dich auf die Füße, Menschenkind! Nur Mut! Trau dich! Lass dich nicht einschüchtern von dem, was andere sagen und denken. Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir!
Gottes Aufträge fordern Stehvermögen. Der Prophet Jeremija z.B. hatte 45 Jahre in Gottes Auftrag gesprochen. Immer wieder vergebens. Er wurde verlacht, bedroht, verhaftet. Immer wieder beklagt er sich bei Gott über seinen Auftrag, sein Leben. Immer wieder möchte er diesen Auftrag Gott vor die Füße werfen aber er kommt doch nicht los.
Wir alle hier würden uns vermutlich nie als Propheten bezeichnen. Aber könnte es nicht sein, dass jede/r von uns von Anfang an einen Auftrag mitbekommen hat, ausgestattet mit seinen ganz besonderen Talenten und Begabungen, mit seiner Leidenschaft und Herzenskraft sich für etwas und jemand einzusetzen? Ich wünsche uns allen, dass die Erfahrung Jeremias, 45 Jahre Frust und Anfeindungen, erspart bleiben. Trotzdem können sich manche vermutlich auch darin wiederfinden. Manchmal ist unser Engagement, Widerspruch und Stehvermögen gefordert und wir spüren: Wenn du jetzt einbrichst, dann verrätst du alles, wofür du stehst.
Und zuletzt: Gottes Aufträge sind nicht unsere Privatsache! Es geht nicht um uns – diese Haltung ist sehr unmodern geworden. Propheten braucht es für die anderen, das Volk, ja die ganze Welt. Für uns kann das bedeuten: Denk nicht zu klein! Auch wenn die Welt um uns herumverrückt spielt, gib die Hoffnung nicht auf! Auch wenn die Grenzen dicht gemacht werden, setzt dich weiter für Menschlichkeit ein. Wenn die Starkregen und extremen Hitzeperioden uns ängstigen, dann denk über deinen Lebensstil nach und frag was du tun kannst um die Natur zu unterstützen.
Susanne Niemayr schreibt in ihrem Buch: 100 Experimente mit Gott“: Ich glaube, jeder hat am Anfang einen Auftrag bekommen: Du sollst Lisa glücklich machen. Du sollst Oboe spielen. Du sollst die Formel für Kadmiumperoxyd erfinden. Aber dann kommt eine Menge dazwischen, eine ganze Kindheit zum Beispiel, Fußballspiele und Hausaufgaben, du gehst ins Schwimmbad, verliebst dich und versuchst den Führerschein zu machen oder die Steuererklärung. Du musst noch Brot kaufen und Gurken und eh du dich versiehst, hast du vergessen, was du eigentlich wolltest. Und dann rufen noch allerhand Leute dazwischen. „Denk an die Familie, …das kannst du nicht … oder erst die Arbeit dann das Vergnügen“ und schon hast du ein Dutzend neuer Aufträge auf dem Buckel. Und deshalb muss man sich manchmal daran erinnern und fragen: Was soll ich tun in dieser Welt? (aus: 100 Experimente mit Gott Vom Abenteuer der Zuversicht 2018)
Was ist Gottes Auftrag für mich? Was ist meine Begabung, mein Beitrag, diese unsere Welt schöner, gerechter und lebenswerter und seine Menschen glücklicher zu machen? Was habe ich schon Gutes in die Welt gebracht? Was ist jetzt dran? Amen