Kindergötter und Gotteskind
Alles Neue hat etwas Faszinierendes. Es ist so unberührt, wie ein unbeschriebenes Blatt, noch nicht von der Geschichte belastet. Ob es das neue Jahr ist, ein neues Haus, das eingeweiht wird, oder eine neue Straße, die dem Verkehr übergeben wird. Und etwas ganz besonderes ist, wenn ein Kind geboren wird, wenn ein neuer Mensch ins Dasein tritt. Das Neue ist ist Hoffnung für die bessere Zukunft.
Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass in verschiedenen Völkern und Kulturen immer wieder Gotteskinder und Kindergötter zu finden sind. Und diese stehen immer an einer Zeitenwende. Sie werden als Zeichen der Hoffnung gesehen.
Im alten Ägypten findet sich ein göttliches Kind, der Horus-Knabe, dessen Eltern Isis und Osiris sind. Auch Pharaonen wurden als Kindergötter geboren und verehrt. Als Beispiel kennen wir Ramses II. und Tutenchamun.Die ägyptischen Kindergötter stehen für das sich immer wieder erneuernde Leben und wurden zum Sinnbild des Weiterlebens auch im Jenseits. Unter der Herrschaft der Ptolemäer, als in Rom Augustus regierte, wurde es in Ägypten besonders populär, Kindergötter zu verehren.
In manchen Mythologien und Geschichten ist die Rede von einer Geburt ohne Schmerzen; auch eine Jungfrauengeburt ist zu finden. Weise und Magier wie die Sibyllen sind im Spiel.
Gott-Kinder werden nicht selten geboren um Retter zu sein. Ihre Geburt wird in Weissagungen genannt. Damit ist das Leben jener Kinder bedroht, die zu Rettern bestimmt sind. Die den Kindern nach dem Leben trachten, sind Menschen, die sich in ihrem Herrschaftsanspruch bedroht fühlen und künftige Konkurrenten beseitigen wollen.
Solche Retter-Kinder finden sich in verschiedenen Religionen. Da sind Mythen nordsibirischer Halbnomaden genau so zu finden wie in Mesopotamien Sargon I. von Akkad. Kyros II., Zarathustra und Krishna, Zeus und Perseus, Dionysos, sowie Romulus und Remus. Seiner Mutter hat Zeus versteckt und seinem Vater Chronos (= Zeit), der seine Kinder verschlang, statt des Kindes einen Stein in einer Windel gegeben.
Romulus und Remus, die legendären Gründer Roms, werden in einem Weidenkorb am Tiber ausgesetzt und von einer Wölfin gesäugt und dadurch gerettet.
Ein besonderes Retter-Kind begegnet uns im Alten Testament: Mose, der zum Retter seines Volkes berufen war, wurde in einem Weidenkörbchen am Nil ausgesetzt und von der Pharaonentochter gerettet.
Dass der König im Alten Orient als „Sohn Gottes“ betrachtet wurde, ist hinreichend bekannt. Auch in Israel wird der König David als „Sohn Gottes“ bezeichnet. Damit wird die von Gott stammende Autorität des Königs unterstrichen. In einer Weissagung wird Davids Königshaus ewiger Bestand zugesagt. Dazu heißt es: „Ich will für ihn Vater sein und er wird mir Sohn sein“ (2 Sam 7,14).
Besonders nennen müssen wir Kaiser Oktavianus Augustus. Beim römischen Dichter Vergil heißt es in der 4. Ekloge mit Hinweis auf die Weissagung der tiburtinischen Sibylle: „Jetzt steigt nieder ein neues Geschlecht aus himmlischen Höhen. Du nur blick auf des Knaben Geburt mit gnädigem Auge, welcher ein Ende eisernen (Zeiten) bringt und den Anfang der goldenen Zeit für die Welt.“ Darin vermutet man ein Lied auf die Geburt des Augustus als Retter. Horaz schreibt über die Rettung durch Augustus von „Treue, Frieden, Ehre und Scham, und von der missachteten Tugend, die zurückkehren“. Der Senat beschließt, Augustus, dessen Herrschaft weithin eine Zeit des Friedens ist, als Gott verehren zu lassen.
Ein Gotteskind ragt unter allen anderen „Gott-Kindern“ heraus: Jesus Christus, der Sohn Gottes. Vor dem Hintergrund der Erzählungen und Mythen des Altertums lassen sich manche Aussagen über Jesus besser verstehen. Texte von Propheten werden auf Christus hin ausgelegt.
Die Kindheitserzählungen Jesu, die uns die Evangelisten Matthäus und Lukas geschenkt haben, bieten viele Zitate und Anklänge an die alten Überlieferungen. Mit diesen Hinweisen künden uns in den Evangelien, wer Jesus ist und welche Bedeutung er für uns hat. Einige dieser Zitate möchte ich hier kurz nennen.
Lukas schreibt, dass Jesus zur Zeit des Kaisers Augustus geboren wurde. Er nennt ihn Retter und die Engel künden Frieden auf Erden in Anspielung an die „Pax Romana“, den Frieden Roms unter Augustus.
Gegenüber anderen Retterkindern ist Jesus allerdings wirklich Mensch. Er ist das Kind, das „in Windeln gewickelt“ in einer Krippe liegt.
- Bei seiner Geburt öffnet sich der Himmel, Hirten wird das Kind als Retter verkündet.
- Im Evangelium des Matthäus wird Jesaja direkt zitiert: „Darum wird euch der Herr von sich aus ein Zeichen geben: Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, sie wird einen Sohn gebären, und sie wird ihm den Namen Immanuel (Gott mit uns) geben“ (Jes 7,14).
- Bei Matthäus treten Magier auf, Astronomen, die den Lauf der Gestirne deuten. Dies erinnert an den mesopotamischen Magier Bileam, der Israel segnet, statt es zu verfluchen, wobei er hinweist auf den Stern, der aus Jakob aufgeht.
- Damit tritt Herodes auf, der in dem verheißenen „neugeborenen König der Juden“ den Konkurrenten sieht und den er beseitigen will. So wie einst der Pharao die Kinder und mit ihnen Mose beseitigen wollte, von denen er eine künftige Bedrohung seines Reiches befürchtete. So ist Jesus bei Matthäus ein neuer Mose.
In all den Geschichten von den Gott-Kindern geht es nicht um das Kind als solches. In diesen Kindergestalten geht es letztlich um das Heil, das sie durch sie den Menschen zuteil werden soll. So haben auch Matthäus und Lukas in die Kindheitserzählungen das zu Ausdruck bringen wollen, was Jesus für uns Menschen ist, und das wir im Lied besingen: „Christ, der Retter, ist da.“
Roland Bachleitner
Pfarrblatt "Pfarrgemeinde aktuell", Nr. 4/2010 S- 3-6