Bischofswort
Liebe Schwestern und Brüder!
„Unsere Kinder sollen es einmal besser haben als wir.“ Diesen Satz hat man vor allem aus dem Mund der Nachkriegsgeneration viel gehört. Der Soziologe Hartmut Rosa hat festgestellt, dass es nun ein anderer Satz ist, der immer mehr Eltern umtreibt: „Unsere Kinder sollen es nicht schlechter haben als wir.“ Das ist ein signifikanter Unterschied. Bei vielen geht die Angst um, dass es schlechter wird; dass der Wohlstand sich nicht auf dem jetzigen Niveau wird halten können; dass es kein leistbares Wohnen mehr gibt; dass der Raubbau an der Umwelt eine spürbare Verschlechterung der Lebensbedingungen mit sich bringt; dass das Sozial- und Pensionssystem kollabiert. Und Ähnliches. Die Effizienzsteigerungen in allen möglichen Bereichen – das „Höher, schneller, weiter“ – sei, so die Theorie des Soziologen, weniger angetrieben von einer Gier, als vielmehr von der Angst vor einem „Immer weniger“: Man will nicht irgendwann auf der Verliererseite stehen. „Es gibt keine Nischen oder Pla-teaus mehr, die es uns erlaubten, innezuhalten oder gar zu sagen: ‚Es ist genug.‘“ Es bleibt keine Zeit mehr, nachzuspüren: Was ist mir angemessen? Was ist mein rechtes Maß?
Und doch gibt es die Sehnsucht nach diesen Nischen, den zeitlichen Unterbrechungen, es gibt die Sehnsucht nach dem Ausbruch aus dem Betrieb des „Erbringen-Müssens“. Wir finden das – noch – verankert in unserer wöchentlichen und jährlichen Zeitstruktur. Die Errungenschaft der Wochenenden, der Sonntag als Tag der Ruhe und der Gemeinsamkeit, die Feiertage als Impulsgeber für eine Kultur jenseits des „Müssens“. Aber auch die Fastenzeit – die Österliche Bußzeit – ist eine Gelegenheit, sich der Frage nach dem „Genug“ und dem „rechten Maß“ zu stellen.
Sich vom Leibgewissen führen lassen
Viele achten in diesen Wochen besonders auf den Körper und die Gesundheit. Zudem wis-sen wir aber auch, dass unser Leib auf seelisch-geistige Vorgänge reagiert. Das zeigt schon unsere Alltagssprache: Jemand hat eine Wut im Bauch; es schlägt einem ein Streit auf den Magen; es lastet Verantwortung auf den Schultern eines Menschen; er trägt schwer an etwas und ist gebeugt; es sitzt einem die Angst im Nacken usw. Was kränkt, macht krank! Sicher ist, dass der menschliche Leib oft etwas auszuleiden hat, was ihm der Wille des Menschen zufügt. Damit ist aber der Leib eine Art Warnsystem. Er kann uns darauf aufmerksam machen, dass einiges im eigenen Leben nicht stimmt; dass der Geist schon einige rote Ampeln überfahren hat. Die Österliche Bußzeit kann eine Zeit der Einübung in die gute Aufmerksamkeit für den Leib sein: Ich achte auf die Signale des Leibes und suche ein gutes Maß an Bewegung und Ruhe.
Das Leben ordnen
In der Österlichen Bußzeit kann es darum gehen, das Leben zu ordnen, und dabei mit den ganz gewöhnlichen und alltäglichen Dingen zu beginnen: wie Essen, Trinken, Schlafgewohn-heiten, Arbeitsausmaß, Muße und Gebet. Gefragt ist nicht eine übertriebene Askese, sondern das rechte Maß, das gute Gleichgewicht, eine Ordnung, die von Freiheit und Liebe geprägt ist. Es geht auch um die Ordnung der Gedanken, der Worte und Werke. Man kann z. B. nicht ungestraft ständig negativen Gedanken und Gefühlen anhängen. Mag sein, dass es dafür nötig ist, eine klärende oder versöhnliche Aussprache, seelsorgliche Hilfe oder professionelle Beratung zu suchen. Zur Ordnung des Lebens gehören in diesem Kontext auch die Bildung von ethischen Werten und Überzeugungen sowie die Arbeit an der Sprache. In einer oberflächlichen und verächtlichen Sprache, bei einer Verwahrlosung des Denkens, bei einer totalen Vergleichgültigung aller Werte und Unwerte, wird das Böse unvermeidlich. Papst Franziskus hat nach der Amazoniensynode von einer vierfachen Umkehr gesprochen. Angesichts der ökologischen, sozialen, kulturellen und geistigen Situation sind ein grundsätzliches Umdenken und eine umfassende ökologische, ökonomische, kulturelle und spirituelle Bekeh-rung notwendig.
Die Schöpfung achten
In den vergangenen Monaten sind zahlreiche Menschen auf die Straße gegangen, um ihren Forderungen nach wirksamen Maßnahmen gegen den menschengemachten Klimawandel und für einen sorgsamen Umgang mit den Ressourcen der Erde Gehör zu verschaffen. Auch die neue Regierung will hier Schwerpunkte setzen. Die christliche Sicht auf die Welt als Schöpfung Gottes kann dafür wichtige Impulse liefern, geht es doch auch hier um ein Gespür des „rechten Maßes“:
Unsere Grundeinstellung der Schöpfung gegenüber sollte nämlich geprägt sein von Dank-barkeit und Freude, von der Fähigkeit, zu staunen und die guten Gaben Gottes zu genießen. Es geht um Achtsamkeit und Wertschätzung in unserem Umgang mit dem Lebensraum und allen Geschöpfen. Der wirksame Einsatz für die Bewahrung der Schöpfung kommt nicht aus einem freudlosen Jammern, sondern aus der Freude am Leben und aus der demütigen Haltung, dass wir nicht selbst Schöpfer dieser Erde sind, sondern Geschöpf. Unsere eigenen Wünsche und Vorstellungen dürfen nicht zum letzten Maß der Dinge werden. Diese Welt ist uns gemeinsam anvertraut und zur Gestaltung übergeben, für gegenwärtige und für zukünftige Generationen. Das bedeutet auch, überlegt auf eigene Ansprüche und Möglichkeiten zu verzichten und mit anderen zu teilen, damit alle menschenwürdig leben können. Fortschritt ist gut, wenn er dem „guten Leben“ der Menschen dient. Gut zu leben ist aber weit mehr, als viel zu haben!
Christliche Spiritualität
Wichtig ist bei diesem Blick auf unsere Verantwortung die Fähigkeit, nicht einfach nur mit dem moralischen Zeigefinger oder als Besserwisser zu kommen. Der christliche Ansatz ist es, sich bewusst zu machen, dass wir selbst Gottes gelungene Schöpfung sind: Gott sah, dass es sehr gut war. Wir sind nicht Gottes Pfuschwerk. Wenn wir das eigene Leben unter das Ja Gottes stellen, können wir uns auch für die Freiheit öffnen, uns zurückzunehmen. Papst Franziskus sieht darin christliche Spiritualität verwirklicht: „Die christliche Spiritualität regt zu einem Wachstum mit Mäßigkeit an und zu einer Fähigkeit, mit dem Wenigen froh zu
sein. Es ist eine Rückkehr zu der Einfachheit, die uns erlaubt innezuhalten, um das Kleine zu würdigen, dankbar zu sein für die Möglichkeiten, die das Leben bietet, ohne uns an das zu hängen, was wir haben, noch uns über das zu grämen, was wir nicht haben.“ (Laudato si‘ 222)
Die Österliche Bußzeit 2020 möge uns darin bestärken, die christliche Spiritualität des „rech-ten Maßes“ zu entdecken und im besten Sinne zu verkosten.
Der Segen Gottes begleite uns dabei in dieser Zeit der Vorbereitung auf das österliche Fest des Lebens.
Linz, am 20. Jänner 2020
+ Manfred Scheuer
Bischof von Linz