Das alte Ritual
Der "Sündenbock" ist mittlerweile sprichwörtlich geworden. Aber nicht jeder, der dieses Wort benutzt, weiß auch, woher dieser Ausdruck kommt.
Am Versöhnungstag, auf hebräisch: Jom Kippur ging und geht es dem Volk Israel um die Versöhnung mit Gott; darum, die Störungen in der Harmonie zwischen Gott und Mensch zu beseitigen. Neben Fasten und Beten gehörte zu diesem Tag bis zur Zerstörung des Tempels ein Brauch, der symbolisch die Befreiung von den Sünden darstellen sollte. Stellvertretend für das Volk legte der Hohepriester einem Ziegenbock die Hände auf und wünschte ihm sämtliche Vergehen des Volkes an den Hals. Dann wurde der Ziegenbock unter lautem Geschrei und Gejohle in die Wüste geschickt, um als "Sündenbock" die Sünden des Volkes weit fortzutragen.
Als ein Religionslehrer in der Grundschule diese Stelle aus der Bibel erzählte, war die einzige spontane Reaktion der Kinder: "Oh, das arme Tier - und diese bösen Menschen!"
Das grausame Spiel
Sündenböcke gab es und gibt es.
Die Juden: als Mörder kleiner Kinder, als Schänder geweihter Hostien, als Vergifter von Brunnen verleumdet. Man hat sie für die große Pest des Mittelalters verantwortlich gemacht, und welche absurden Vergehen ihnen die Nazis vorwarfen, wissen wir aus unserer jüngsten Vergangenheit.
Auch die ersten Christen wurden zum Sündenbock gemacht. Kaiser Nero gab ihnen die Schuld für den Brand Roms im Juli 64 und ließ viele als "Abschaum der Menschheit" im Amphitheater ermorden.
Sündenböcke gibt es bis heute. Kaum eine Gesellschaft, kaum ein Betrieb, kaum eine Schulklasse, kaum eine Familie, in der nicht jemand zum Sündenbock gemacht wird. Es ist immer dasselbe Spiel: Weil jemand seine eigene Schuld nicht annehmen kann, lädt er sie einem anderen auf, um sie dadurch loszuwerden. Das freiwillige Sündenlamm
Es gibt auch die Bereitschaft, die Rolle des Sündenbocks freiwillig zu übernehmen.
Ein Beispiel: der Franziskanerpater Maximilian Kolbe. Als im Konzentrationslager Auschwitz ein Gefangener entfloh, mussten dafür zehn andere Häftlinge sterben. Maximilian Kolbe ging freiwillig für einen polnischen Familienvater in den Todeskeller.
Das meint Johannes, wenn er über Jesus sagt: "Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt!"
Die wehrlose Liebe des Gotteslammes hat die Lieblosigkeit der Welt entlarvt und ist zum Symbol für die erlösende und verwandelnde Kraft der Liebe Gottes geworden.
Jesus hat sich geopfert, um dadurch die Treue Gottes zum Menschen in seiner Todesverfallenheit bis zum äußersten zu demonstrieren. Er opfert sich, damit der Teufelskreis des Bösen durchbrochen wird; er hält die Liebe zum Vater aufrecht, ebenso die Liebe zu den Menschen, auch zu denen, die ihn vernichten wollen. Damit hat er die Macht der Sünde endgültig gebrochen und den Weg geöffnet aus allem Menschen- und Lebensfeindlichen, aus Hass und Gewalt, aus allen, was der Liebe widerspricht; so hat er der Liebe zu ihrem Recht verholfen. Gott rettet uns durch Jesu durch nichts aufzuhaltende Liebe.
Wenn auch das Bild vom Lamm Gottes uns nicht mehr unmittelbar anspricht, so ist seine Aussage nach wie vor aktuell: Uns rettet nur, wer uns liebt. Das ist dann eben auch die Devise für unseren Umgang miteinander; damit hört sich die Sündenbockmentalität auf.
So ist das Lamm ein biblisches Ursymbol für erlösende Kraft der wehrlosen Liebe Gottes. Sie besiegt den Hass und das Böse in der Welt nicht durch Vernichtung, sondern durch Verwandlung!
An das alles kännen wir denken, wenn wir so oft das Agnus Dei sprechen oder singen. Uns rettet nur, wer uns liebt.