„Ecce homo!“
Liebe Mitchrist/innen!
„Ecce homo“ – „Seht, der Mensch! – Seht, welch Mensch!“ sagt Pilatus zu dem, den man blutig geschlagen und spottweise mit Dornen gekrönt im Purpurmantel vorführt.
Pilatus zeigt auf Jesus und damit gleichzeitig auf das, was an ihm geschah: grundlose Verhaftung, Verrat im eigenen Kreis, Verhöre, Folter, Meineide, politische Schacherei, sensationslüsterne Gafferei. „Seht, welch Mensch!“ – Das hat man mit ihm gemacht! Und man hat es mit vielen anderen auch gemacht, und man macht es weiterhin. Der Blick auf Jesus ist ein Blick auf viele.
Das Leid der Welt ist kaum auszuhalten. Wir rücken es weg. Es bedrückt, es erdrückt uns. Aber am Karfreitag soll es zu seinem Recht kommen, das offenkundige wie das stille Leid: das Weinen des Kindes, die Not einer unheilbaren Krankheit, der Schmerz einer zerbrochenen Beziehung, das Schicksal der Arbeitslosigkeit und das Gefühl überflüssig zu sein, die Katastrophe des Krieges, das blindwütige Schicksal der Natur, die Kollateralschäden des beschleunigten Fortschritts. „Seht, der Mensch!“ – Was kann nicht alles über ihn kommen! Dass wir der Passion Jesu gedenken, ist das höchste Zeichen dafür, dass wir seiner furchtbaren Realität nicht ausweichen wollen.
„Ecce homo!“ – „Seht, was für ein Mensch! – Seht, was ist der Mensch?“ Wie kann man ihn nicht zugrunde richten! Und auch: Was bringt er nicht alles fertig!
Mit „Ecce homo“ weist Pilatus auf Jesus hin, aber das Wort weist auch auf ihn zurück. Auf ihn, einen maßgeblichen Akteur in diesem tödlichen Prozess, der sich trotzdem die Hände in Unschuld wäscht. „Ich finde keine Schuld an ihm“, stellt er nach einem langen Verhör fest. Trotz Einsicht in die Unschuld des Angeklagten wird dessen Recht und Menschenwürde mit Füßen getreten. „Wir haben ein Gesetz, und nach diesem Gesetz muss er sterben“, eifern die Ankläger. Niemand hat einen wirklichen Grund, ihn zu hassen. Aber er passt nicht in das Schema der gewohnten Welt.
An ihm, dem durch und durch Gerechten, wird offenkundig, wie viel Dummheit, Gemeinheit und Gewalttätigkeit im Menschen stecken kann: „Seht, der Mensch!“ Und hier zeigt das Wort auf uns alle. Nein, wir haben Jesus nicht umgebracht, auch die Römer nicht und die Juden auch nicht. Und doch müssen wir uns eingestehen, dass wir verwickelt sind in Unrechts- und Schuldzusammenhänge – mal mehr, mal weniger, mal scheinbar gar nicht. Leicht sagt man: „Das tun ja alle“, „Man hat das halt damals nicht besser verstanden“, „Es ließ sich einfach nicht vermeiden“. Wir verweisen auf Umstände, auf Sachzwänge, auf Ursachen, die in der Vergangenheit liegen. Die Passion Jesu legt offen, dass man auf verschiedene Weisen in schuldhafte Vorgänge verwoben sein kann – als Anführer, als Mitläufer, als Wegducker. Unschuldsbeteuerungen und Alibis halten nicht.
„Ecce homo!“ – Seht, was für ein Mensch! – Seht, was ist der Mensch!“ Der Blick auf den geschlagenen Gottessohn stellt alles Leid – auch das sprachlose und das unbemerkte – in einen religiösen Zusammenhang, in einen, der hoffen und trösten hilft. Unzählige Menschen haben die schmerzlichen Wirklichkeiten ihres Lebens, ihre Nöte dadurch bestanden, dass sie auf ihn geschaut haben. Sie haben sich von ihm verstanden gefühlt, weil er selber litt. Im Blick auf den geschundenen Bruder Jesus konnten sie ihr Schicksal leichter annehmen und durchstehen. Der in solchen Situationen oft ferne Gott ist in Jesus doch nicht ferne. Er gibt uns Auskunft über uns selbst, Auskunft über das, was wir wirklich sind und was wir hoffen dürfen. „Ecce homo!“ – „Seht, der Mensch! – Seht, was ist der Mensch!”