Gedanken zum Sonntagsevangelium vom 29. März 2020 (Joh 11,1–45)
Den gesamten Evangeliumstext können Sie hier nachlesen: Evangelium nach Johannes, Kapitel 11, Verse 1 bis 45
Guten Tag, ich will mein Leben zurück!?
Liebe Pfarrgemeinde! Der Wein auf meinem Balkon ist in den warmen Tagen vor dem späten Frost ausgetrieben. Erste grüne Knospen sind erschienen. Neues Leben hat sich angekündigt. Der Frühling lässt sich nicht aufhalten. Die Natur will leben.
Doch unser menschliches, unser zwischenmenschliches Leben ist zerbrechlich geworden. Unser Gemüt, die meiste Zeit in den eigenen vier Wänden eingeschlossen, ist in diesen Tagen leicht in Unruhe zu bringen. Die Emotionen gehen schnell hoch. Ich selbst werde schnell „grantig“. Corona fordert unser Gefühlsleben schonungslos heraus. Die längst überwundene Depression klingelt an der Tür. Ich winke ihr zu. Kontakt verboten.
„Ich will mein Leben zurück!“ Ein Wunsch, den viele haben? Vermutlich, ja, ein Wunsch, den viele haben! Menschen, die alleine leben, aber viele Sozialkontakte hatten, fällt jetzt sprichwörtlich die Decke auf den Kopf. Aber auch alte Menschen, die alleine sind, aber sich wöchentlich in der Kirche oder am Stammtisch im Wirtshaus getroffen haben, haben es schwer.
Ich will mein Leben zurück, das heißt bei nicht wenigen: Ich will meine Arbeit, mein Einkommen zurück. Für uns alle bedeutet es: Ich will meine gelebten Beziehungen zurück. Ich will rausgehen dürfen, ich will Menschen treffen, umarmen, gemeinsam lachen und all das tun, was schon fast wie aus einer lang vergangenen Zeit erscheint. Ich will mein Leben zurück!
Ich will sein Leben zurück! Im Evangelium vom letzten Sonntag (Joh 11,1–45) dreht sich scheinbar alles um Lazarus, auch wenn er kein einziges Wort spricht. Am Beginn der Handlung liegt er noch krank darnieder, doch dann stirbt er. Seine Schwestern wollen sein Leben zurück – und auch Jesus will sein Leben zurück. Er weckt ihn deshalb auf zu neuem Leben. Wer sich länger mit dem Text und dem ganzen Johannesevangelium beschäftigt, merkt, dass hier nicht einfach ein Wunder, eine Totenauferweckung vorliegt. Im gesamten Evangelium tritt Jesus schon als Auferstandener auf. Als einer, der das neue Leben schon hat. Nicht einmal vor seinem eigenen Tod hat er Angst.
Und doch werden wir hier – in einer Erzählung, in der es um die Auferstehung geht und die die ganze Größe Jesu demonstrieren will – fast von menschlichen Emotionen überrollt. Jesus freut sich, ist zwei Mal innerlich erregt, ist erschüttert, weint. Außerdem wird drei Mal erzählt, er hat(te) Lazarus lieb.
Ist das nicht ein klarer Hinweis, dass bei all der Rede um die Auferstehung und das Leben die Emotionen und die menschlichen Beziehungen eine wesentliche Rolle spielen?
Der Evangelist lässt Jesus sogar sagen: „Ich bin die Auferstehung und das Leben.“ Ein fernes Leben im Jenseits ist da nicht zuerst im Blick. Zuerst im Blick ist das Aufwachen, das Aufstehen und das Leben hier, das sich v.a. in menschlichen Beziehungen abspielt, wo Gefühle auftreten. Jesus sagt selbst, er weckt Lazarus auf. Lazarus hat es dringend nötig, aufgeweckt zu werden, aufzuwachen, aufzustehen, neu zu leben.
Will ich mein Leben zurück? Lazarus sagt nichts. Was will Lazarus? An ihm zeigt sich: Es braucht manchmal auch Mitmenschen, die uns oder andere aufwecken. Die Worte Jesu sind eindeutig. Er ruft laut: „Lazarus, komm heraus! Löst ihm die Binden!“ Lazarus wird aufgefordert, heraus aus seinem Grab zu kommen, aus seiner Situation, aus der er nicht mehr alleine rauskommen konnte. Es braucht Mitmenschen, die ihn rufen, die ihm die Binden lösen. Die Binden sind Bild für das, was ihn (uns) am Leben hindert.
Derzeit sind wir in Gefahr, uns nicht nur in unseren Wohnungen einzuigeln, sondern auch uns nur mehr mit uns selbst zu beschäftigen – samt unseren psychischen und emotionalen Zuständen. Gerade jetzt braucht es Menschen, die bei anderen die Binden lösen können. Die Binden, die man alleine nicht mehr wegbekommt. Binden lösen können wir am Telefon, Menschen anrufen, von denen wir wissen, dass ihnen das Alleinesein schwerfällt. Oder ihnen gut altmodisch einen Brief oder eine Postkarte schicken.
„Guten Tag, ich will mein Leben zurück!“ – Diese Liedzeile von „Wir sind Helden“ aus dem Jahr 2003 klingt wie frisch gesungen. „Tausche blödes altes Leben gegen neue Version“, hieß es dort, doch bald wird das alte Leben zurückgewünscht. Wir wollen uns unsere „neue Version“ („neue Normalität“) nicht lange ausmalen, wollen das alte Leben zurück. Doch könnte am Ende nicht auch ein Auf(er)stehen auf uns warten? Ein Leben, in dem wir uns lebendig fühlen in unseren Beziehungen und Gefühlen, bei unserem gemeinsamen Dasein, Weinen und Lachen?
Rainer Haudum, Pastoralassistent
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Sie können gern eine E-Mail an rainer.haudum@dioezese-linz.at schreiben.
Sonntagsevangelium und Gedanken von Rainer Haudum als PDF zum Downloaden