Rückblick von Pfarrer Dr. Eduard Röthlin
Erfahrungen sind immer persönlich geprägt und dürfen nicht verallgemeinert werden, wenngleich sie auch ein Stimmungsbild einer Zeit sein können. Außerdem ist die Erinnerung nicht ganz objektiv und umfassend, sondern individuell durch positive und negative Erfahrungen geprägt. Zum Glück werden die negativen Erfahrungen eher vergessen oder verdrängt.
Beginn in der Vorstadtpfarre zu Wels
Der Beginn meiner Arbeit als Kaplan in einer großen Pfarre war bestimmt durch sehr viele Religionsstunden zusätzlich zur pfarrlichen Tätigkeit mit vielen Taufen, Beichten und Begräbnissen. Es gab damals noch sehr wenige ReligionslehrerInnen. Die Schule hat mich auch überfordert, weil ich von der Pädagogik her sicher schlecht vorbereitet war und auch wenig oder gar keine Begleitung hatte. Ich habe in allen Sparten der Schule (mit Ausnahme der Sonderschule) unterrichtet, was mich viel Kraft kostete. Ich bin den Schülern sicher nicht immer gerecht geworden.
Mit der Jungschar und Jugend war damals in Zusammenarbeit mit einer Pfarrschwester gut arbeiten. Die Jugend hatte noch wenig Geld und war für günstige Angebote der Pfarre dankbar. Mit der Zeit wurde die Jugendarbeit allgemein schwieriger und ich war später als Pfarrer froh, sie den Kaplänen überlassen zu können. Es war der Umbruch der 68-iger Jahre. Die Jugend wurde in jeder Weise mobiler. Die Geschlechtertrennung wurde aufgehoben oder überwunden mit allen Herausforderungen für die Pastoral. Unterdessen ist es noch schwieriger geworden, weil es immer mehr gestörte Kinder und Jugendliche gibt.
Geprägt war die Kaplanszeit auch durch die große Zahl der Beichten. Das stundenlange Beichthören war oft enorm anstrengend, auch bereichernd. Allerdings kann ich im nachhinein darüber schamrot werden, welche Lasten wir den Leuten aufgeladen haben, erzogen von der damaligen Moraltheologie. Der Patriarch der Melchiten, Maximos IV. fragte bei einer Konzilsrede im Jahre 1964: „… kann eine Mutter (die Kirche) unter Strafe der ewigen Verdammnis eine solche Verpflichtung (Sonntagsmesse) auferlegen? “ Ich erinnere mich an einen alten, durchaus gläubigen Mann, dem wir nach dem damaligen Gesetz das Begräbnis verweigerten, weil er bei der Flamme (= Verein zur Feuerbestattung) war.
Die Ära des Konzils
Damit sind wir schon bei einer Erfahrung, die für mein Leben und Wirken als Priester enorm positiv und befreiend geworden ist: das Zweite Vatikanische Konzil. Ich denke daran, wie wir in einer Gruppe von Priestern unsere Anregungen, Wünsche und Erwartungen für das Konzil ganz bescheiden formulierten, und wie sehr diese in unerwarteter Weise übertroffen worden sind. Mit welcher Spannung haben wir die Konzilsberichte am Radio gehört und in den Zeitschriften gelesen. Es war eine Aufbruchstimmung.
1. Das war der befreiende Prozess der liturgischen Umstellung auf die Landessprache und die Zuwendung des Priesters zum Volk durch den Volksaltar, dessen Aufstellung in zwei Pfarrkirchen ich anregen konnte. Ich erinnere mich etwa an die Begräbnismessen in der Vorstadtkirche. Ich musste meine Lesungen und Gebete vorne am Altar vollziehen ohne Kommunikation mit den Messbesuchern, die oft ohne Verständnis in der Kirche anwesend waren. – Das offiziell begrenzte Maß der Veränderung bedingte zugleich ein jahrelanges Suchen nach dem Maß einer verantworteten Freiheit in der liturgischen Gestaltung.
2. Es ging um die Öffnung zur Ökumene, die uns die anderen Mitchristen erkennen und annehmen ließ. Am Gymnasium meinte ich noch, einen Freund unbedingt zur katholischen Kirche bekehren zu müssen, woran die Freundschaft zerbrach.
3. Es betraf den Abschied vom Hochwürden, da „doch unter allen eine wahre Gleichheit in der allen Gläubigen gemeinsamen Würde und Tätigkeit zum Aufbau des Leibes Christi waltet“ (Konstitution über die Kirche Nr. 32). Demgegenüber glaubte ich nach meiner Priesterweihe, nicht ohne Kollar daheim über den Marktplatz gehen zu dürfen. Im Lehrschreiben der deutschsprachigen Bischöfe vom Jahr 1972 habe ich den überzeugenden Ausdruck der priesterlichen Existenz gefunden: „… das ´Für-uns´ Jesu Christi in Wort, Zeichen und Existenz vermitteln“. Hierin liegt auch eine tragfähige Motivation für den Zölibat. Ich bin Gott dafür dankbar, dass ich nie eine ernsthafte Überlegung hatte, meinen Beruf aufzugeben. Es hat mir auch die Entschiedenheit geholfen, bei dem zu bleiben, worin ich in Freiheit angefangen habe. – In diesem Zusammenhang muss ich auf die schmerzliche Erfahrung hinweisen, dass manche Freunde ihren Priesterberuf aufgegeben haben, und dass die Zahl derer, die Priester werden, immer kleiner geworden ist. Aber die Entscheidung zur zölibatären Lebensform ist heute sicher viel schwerer als früher.
Noch eine Änderung wurde für uns Priester höchst bedeutungsvoll: die Umstellung vom endlos langen Brevier auf das deutsche Stundengebet. Wenn man das Brevier flott gelesen hat, brauchte man jeden Tag eineinhalb Stunden. Wegen der Länge und der lateinischen Sprache war es kaum ein Gebet, sondern eine Pflichterfüllung. Schon Karl Rahner hatte uns in der Studienzeit gesagt, dass diese Vorschrift wohl eine Sünde sei und hat spaßig vom frömmsten Tier gesprochen, dem Hasen, der vorne Brevier und hinten Rosenkranz „betet“.
4. Mit dem Abbau der übertriebenen Sonderstellung des Priesters hängt die Aufwertung der Laien durch das Konzil zusammen. Es gehört zum erfreulichsten der nachkonziliaren Entwicklung, dass die Pastoral zusammen mit ReligigionslehrerInnen, PastoralassistentInnen, Pfarrgemeinderäten, Tischmüttern und FirmhelferInnen usw. getragen, gestaltet und verantwortet wird. Das ist eine gewaltige Entlastung für den Priester.
5. Nicht unerwähnt möchte ich die Einführung des Ständigen Diakonates durch das Konzil lassen, da ich von Anfang an in der Diözese Linz mit der Ausbildung betraut bin. Es ist überaus erfreulich, dass es nun schon 60 Ständige Diakone gibt, die ehrenamtlich wertvolle Arbeit in Pfarren, Krankenhäusern, Altenheimen usw. leisten. Mag das Berufsbild noch nicht in allem geklärt sein, es zeichnet sich ein zukunftsträchtiger Weg für geistliche Berufe ab: Als bewährte Männer (viri probati) werden sie oft von den Pfarren vorgeschlagen und mit Zustimmung der Pfarre geweiht, sind verheiratet, müssen kein volles Theologiestudium haben, arbeiten ehrenamtlich (außer sie sind zugleich Pastoralassistenten) und stellen eine Entfaltung des Weihesakramentes dar.
Weiterbildung
Die Bibel wurde mir erst in Laufe der Jahre vertraut, und für das persönliche Leben und für die Pastoral wichtig. Das Alte Testament wurde uns im Studium überhaupt nicht erschlossen. Die Vorbereitung der Bibelrunden durch Jahre hindurch ließ mich selbst am meisten gewinnen. – Überhaupt freue ich mich, und es ist für meinen Glauben ein Gewinn, wenn ich ein gutes Buch oder einen aufschlussreichen Artikel finde, der mir ein Aha-Erlebnis verschafft oder einen größeren Zusammenhang erschließt. Schon Karl Rahner betonte, dass es in der Bibel immer Neues zu entdecken gibt. Die Weiterbildung war mir stets ein Anliegen. Besonders die Zeit als Spiritual im Seminar verschaffte mir dazu die Zeit und die drängende Herausforderung. Nicht unerwähnt lassen möchte ich die jährlichen Exerzitien in einer Gruppe von etwa zehn Priestern, die wir uns nun schon mehr als 25 Jahre treffen. Viel Vorbereitung fiel mir zu, aber wichtig ist auch die gegenseitige Anregung in der Gruppe.
Ein Anfang in einer neuen Pfarre war zugleich eine Chance und eine neue Herausforderung, wobei mir ein paar Kapläne nicht nur Helfer in der Pastoral, sondern aufmerksame Begleiter waren. Nicht missen möchte ich auch die Erfahrung in einigen Familienrunden, die mir Beheimatung gaben, und die oft wohlwollend-bohrend nach dem Grund meiner Hoffnung fragte (vgl. 1 Petr 3,15).
Zur Lage der Kirche
Zur Zeit bläst uns mindestens in der Stadt ziemlich heftig der Wind ins Gesicht. Es ist nicht leicht, das Abnehmen der Kirchenbesucher zu verkraften. Es ist eine schmerzliche Erfahrung, wenn regelmäßige Kirchenbesucher auf einmal ohne Abmeldung ausbleiben. Der Besuch von Kirchenbeitragssäumigen lässt die enorme Distanz zwischen Kirche und vielen Zeitgenossen nachdrücklich erfahren und mahnt zu einem sehr verantwortungsbewussten, sparsamen Umgang mit dem Geld. Manchmal kann der Priester dabei auch der Armut begegnen, welche die eigene unbeschwerte finanzielle Lebenslage grell ins Licht setzt.
Es gibt heutzutage in weiten Kreisen innerhalb und außerhalb der Kirche eine äußerst kritische Einstellung zu Rom. Für viele hat das Lehramt durch autoritäre, zu wenig begründete Entscheidungen, die nicht vom Gesamt der Kirche mitgetragen werden. die Glaubwürdigkeit verloren. Dabei wäre ein sachgerechtes, klärendes Wort in der Vielfalt der Meinungen im heutigen allgemeinen Pluralismus äußerst wichtig.
Dennoch: Ich bin zufrieden, in dieser Zeit nach dem Konzil, hinter das es kein Zurück mehr gibt, Priester zu sein. Es ist immer eine lohnende Aufgabe, Menschen glauben und leben zu helfen, besonders auch den Alten und Kranken. Ein Priester, der sich engagiert, wird immer einiges bewirken, wie mir vor Jahren ein engagierter Laie gesagt hat. Ich habe aber auch durchaus Defizite erfahren. Es ist mir nicht leicht, offen auf distanzierte Christen zuzugehen und bei der Verkündigung mehr von den Menschen als von der Lehre auszugehen.
Meine Dissertation über die Todpredigt hat mir die erschreckende unbiblische Einseitigkeit in der Verkündigung sehr bewusst gemacht. Wo sind heute meine, unsere Einseitigkeiten und blinden Flecken? Wie werden wir heute der Jugend gerecht? Ich darf es nicht übersehen, mich als alter Priester zur rechten Zeit zurückzuziehen.
Aus „Die Brücke“ (Juni 2001)