Weihnachten als Sollbruchstelle der Hoffnung
Die Wallfahrtskirche in Christkindl bei Steyr feiert im kommenden Jahr ein Jubiläum. 1725 – vor dreihundert Jahren – wurde sie fertiggestellt. Im Zentrum dieser Kirche, vorne beim Hochaltar, befindet sich das namensgebende nur wenige Zentimeter große Jesuskind-Wachsfigürchen, eingebettet in einen wunderschönen barocken Hochaltar. Diese Kirche ist weltberühmt. Vor ein paar Jahren hat sich folgende Begebenheit zugetragen: Eine Reisegruppe italienischer Touristen ist regelrecht in die Kirche gestürmt, hektisch suchend und laut fragend: „Wo ist das Jesuskind?“ Als ihnen die Pfarrseelsorgerin das Jesuskind zeigte, waren sie enttäuscht: „Was – nur so klein?“
Wo ist das Jesuskind? Wo entdecken wir Jesus zu Weihnachten? Für die meisten Menschen ist Weihnachten ein Fest der Familie. Um keine andere Zeit im Jahr ranken sich so viele Familientraditionen und liebgewordene Rituale. Viele sprechen von einer besonderen Stimmung in der „staden“ Zeit. Bei vielen erzeugt Weihnachten ein positives Grundgefühl. Es gibt aber auch jene, für die an Weihnachten die Vereinsamung besonders hochkommt: Das erste Weihnachtsfest nach dem Tod eines lieben Menschen oder nach einer zerbrochenen Beziehung. Manche können mit der Betonung der heilen Welt zu Weihnachten nicht umgehen. Als ich einmal am Heiligen Abend die Wärmestube der Caritas besucht habe, hat mich einer, der nach der Trennung von seiner Frau ohne Arbeit war und den auch die beiden Kinder nicht besuchen, gefragt: Liest du uns heute das Weihnachtsevangelium vor? Diese Frage war aber eher abwehrend gemeint. Denn, so der Mann: „Ich versuche Weihnachten so fern wie möglich zu halten. Sonst kommt die Melancholie zu stark hoch!“
Weihnachten lässt wenige kalt. Weihnachten ist nicht das Fest für Egoisten, es ist das Fest der Beziehungen. Wir drücken unser Mögen aus – mit Worten, mit Gesten, mit Geschenken. Ausgangspunkt dafür ist das Geschehen in Bethlehem: Gott wurde Mensch in Jesus Christus. Weihnachten ist das Fest der Beziehungen, weil Gott mit uns in Beziehung tritt: Wir finden Gott in den freudigen Momenten unseres Lebens, in der Geborgenheit und in den Sternstunden. Wir finden ihn aber auch in den Nächten und in den Krisen. Das gibt Grund zur Hoffnung.
Von dem Musiker Leonard Cohen, der vielen durch sein „Hallelujah“ ein Begriff ist, gibt es die Zeile: There’s a crack in everything, that’s how the light gets in. In allem gibt es einen Sprung, einen Riss, wo Licht eindringen kann. Weitergedacht kann man vielleicht sagen: In allem Streit, in jeder Unversöhntheit, in aller Einsamkeit gibt es auch eine Sollbruchstelle der Hoffnung. Diese Hoffnung dürfen wir uns weder im persönlichen Leben noch im gesellschaftlichen Gefüge nehmen lassen. Es ist die Hoffnung, dass der versöhnende und beziehungsstiftende Charakter von Weihnachten auch in kleinste Ritzen eindringen und Gedanken, Worte und Taten in Gang setzen kann. Versöhnung, Zuversicht und Mut zum Leben können von Weihnachten ausgehen. Wo ist das Jesuskind?
Ich wünsche Ihnen frohe und gesegnete Weihnachten!
Herzlich
Bischof Manfred Scheuer