Familien in der Pandemie: Liebevoller Umgang trotz unterschiedlicher Ansichten
Josef Lugmayr, Beziehungs-, Ehe- und Familienseelsorger der Diözese Linz und Leiter von BEZIEHUNGLEBEN.AT: „Diese Pandemie stellt uns als ganze Gesellschaft vor eine große Herausforderung – speziell auch die Familien. Wir sehen uns mit einer existenziellen Krise konfrontiert, die viele Ängste und Gefühle auslösen kann: die Angst zu sterben, die Angst, geliebte Menschen zu verlieren, Angst, schuldig zu werden und jemanden mit der Krankheit anzustecken. Unsicherheit, Ohnmacht, Ärger, Wut und Kontrollverlust werden erlebt. In einigen Menschen rufen diese bedrohlichen Gefühle alte Erfahrungen und Verwundungen wach, in denen sie sich schutzlos und ausgeliefert fühlen.“
Menschen sind sehr unterschiedlich und reagieren verschieden auf Maßnahmen und Lösungsansätze zur Bewältigung der Pandemie. Die derzeitige polarisierende Debatte zwischen „geimpft“ und „ungeimpft“ zeigt die Spannungen, die daraus entstehen können. In vielen Familien und auch im Freundeskreis sind Diskussionen und Streitigkeiten über den „richtigen“ Umgang mit der Pandemie an der Tagesordnung.
Josef Lugmayr, Beziehungs-, Ehe- und Familienseelsorger der Diözese Linz. © Diözese Linz / Appenzeller
Ein paar Beispiele aus der Beratung von BEZIEHUNGLEBEN.AT:
- Eine Frau erzählt, dass ihre Tochter sie nach ihrer schweren COVID-Erkrankung nicht zum Arzt fahren wollte. Die Begründung der Tochter war: „Wenn du geimpft wärst, hättest du dir die Krankheit erspart!“
- Ein Mann berichtet, dass er und seine Familie sich impfen ließen und sein Bruder daraufhin den Kontakt zu ihnen völlig abgebrochen hat.
- Ein Paar leidet unter dem unterschiedlichen Umgang mit der Krankheit: Die Frau geht locker mit der Situation um und macht sich keine Sorgen, der Mann braucht ganz viel Sicherheit und eine strenge Einhaltung der Regeln. So geraten sie im konkreten Alltag immer wieder aneinander.
Nicht selten kann es zu groben Vorwürfen, Erziehungsversuchen und Schuldzuweisungen bis hin zu Abwertungen, Missachtung und Beziehungsabbruch kommen: „Wenn du nicht so bist/denkst wie ich, will ich nichts mit dir zu tun haben …“
BEZIEHUNGLEBEN.AT hat fünf Möglichkeiten für den Umgang in kritischen Situationen rund um COVID-19 überlegt
1. Reden Sie über Ihre Ängste
- „Ich habe Angst, dass du sterben könntest, wenn du dich nicht impfen lässt. Ich will dich nicht verlieren!“
- „Ich habe Angst, dass die Impfung dir schaden könnte.“
- „Ich befürchte, dass wir keine Rechte mehr haben.“
- „Ich habe Angst und du hast Angst.“
Auch hinter der Wut stecken meistens Ängste. Möglicherweise die, ohnmächtig zu sein, bevormundet zu werden oder die Sorge um wichtige Menschen.
2. Anerkennen Sie die Unterschiede
Ihre Lösungsversuche, wieder Kontrolle zu erlangen, sind andere als die Lösungsversuche Ihres Gegenübers: „Ich denke anders als du. Sachlich finden wir keinen gemeinsamen Nenner. Ich akzeptiere das. Du bist mir wichtig und ich bemühe mich auszuhalten, dass wir in diesem Fall unterschiedlich sind.“
3. Versuchen Sie, die innere Not zu sehen
Menschen halten den Zustand der Bedrohung schwer aus. Dadurch können sie in eine innere Not geraten. Die meisten versuchen die Gefühle von Bedrohung und Ohnmacht mit Aktionismus zu vertreiben, damit sie arbeitsfähig bleiben, damit die Kinder versorgt werden können ...
Nehmen Sie sich Zeit, ihre eigene Verletzlichkeit wahrzunehmen. So können Sie besser auch die Not in Ihrem Gegenüber spüren und gemeinsam aushalten. Überforderung, Not, Ohnmacht gemeinsam auszuhalten und nicht zu unterdrücken oder zu verharmlosen schafft Verbundenheit.
Wenn man diesen Schritt nicht gehen kann, passiert es leicht, dass man in die Falle der Feindschaft und Abwertung gerät: „Weil du so komisch bist, weil ich dich nicht verstehen kann, weil du aus meiner Sicht falsch liegst, bist du gegen mich.“
4. Unterbrechen Sie das Gespräch, tun Sie etwas anderes
Wenn Sie inhaltlich aneinandergeraten und nur mehr über „Richtig“ oder „Falsch“ diskutieren, STOPPEN Sie das Gespräch.
Bremsen Sie Ihre eigenen inneren „zerstörerischen“ Kräfte und die Ihres Gegenübers: „An dieser Stelle möchte ich nicht mehr weiter diskutieren. Wir kommen sachlich nicht weiter. Reden wir über etwas anderes oder gehen wir eine Weile auf Abstand, um uns wieder zu beruhigen!“
Gestalten Sie jetzt bewusst Ihre Zeit mit etwas Erfreulichem, Sinnvollem, anstatt sich in Wortgefechten zu verstricken. Überlegen Sie, was Ihnen gemeinsam Freude macht, z. B. kochen, spazieren gehen, miteinander spielen …
So können Sie fühlen und erleben: Vieles in unserer Familie ist sehr gut, ein kleiner Teil ist ungelöst und schwierig. Diesen können wir annehmen.
5. Stellen Sie die Verbundenheit über das Trennende
Bestärken Sie sich selbst: „Wir sind eine Familie. Trotz unterschiedlicher Meinungen und Entscheidungen wollen wir miteinander verbunden bleiben. Wir achten und lieben einander, so wie wir sind. Wir können uns gegenseitig nicht immer verstehen, können die Sichtweisen des/der anderen schwer aushalten, weil wir anders denken. Wir wissen, dass es jede/r von uns gut meint.“
Gerade in schwierigen Zeiten ist es wichtig, einander jeden Tag in Respekt, Wertschätzung und Achtung zu begegnen und einander im Alltag zu unterstützen. So können trotz unterschiedlicher Zugänge Verbundenheit und Zuneigung als Basis der Beziehung bestehen bleiben.
Verständnis füreinander und ein achtsamer Umgang miteinander, auch wenn Positionen unterschiedlich sind. © StockSnap / www.pixabay.com CC0 1.0
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