Freitag 22. November 2024

Wiener Pastoraltheologe Paul Zulehner wird 80

Eines der prominentesten "medialen Gesichter" der katholischen Kirche in Österreich, der Wiener Pastoraltheologe, Religionssoziologe und Werteforscher Paul M. Zulehner, feiert am 20. Dezember 2019 seinen 80. Geburtstag.

Auch elf Jahre nach seiner Emeritierung rast der Wiener Pastoraltheologe, Religionssoziologe und Werteforscher Paul M. Zulehner "mit 80 Jahren immer noch wie eine junge Gazelle durch die Weltgeschichte". Das attestierte dem am 20. Dezember seinen runden Geburtstag feiernden Theologen eine seiner Nachfolgerinnen am weltweit ältesten Lehrstuhl für Pastoraltheologe an der Universität Wien, Regina Polak, bei einem Symposium und einer Doktoratsverleihung ihm zu Ehren in Cluj-Napoca (Rumänien). Der Jubilar hält an die 100 Vorträge pro Jahr, seine bis 1959 zurückreichende Publikationsliste ist schier endlos – 100 Monografien, rund 50 Bücher, etwa 700 Artikel – und voll von aktuellen gesellschaftlichen sowie kirchenpolitischen Bezügen.

 

Der frühere Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien untersucht seit Jahrzehnten gesellschaftliche Entwicklungen, kommentiert sie im Licht des Glaubens und leitet daraus Handlungsimpulse für Kirche und Seelsorge ab. Gleichzeitig ist Zulehner eines der prominentesten "medialen Gesichter" der katholischen Kirche in Österreich. Bekannt für seine pointierten Formulierungen und die Fähigkeit, Theologie auch einer breiten Öffentlichkeit anschaulich zu machen, tritt er häufig als Diagnostiker und Kommentator sozialer, religiöser und kirchlicher Entwicklungen auf.

 

So ist er z. B. Mit-Initiator der Online-Petition "Pro Pope Francis", mit der bis zur Übergabe an den Papst im Februar 2019 fast 75.000 Personen ihre Unterstützung für dessen Kirchenkurs bekundeten. Die jüngste Petition Zulehners "#Amazonien auch bei uns!" zielt darauf ab, dem Priestermangel nicht nur in Amazonien, sondern auch im deutschsprachigen Raum durch die Weihe "bewährter Personen" – eine bewusste Erweiterung der "viri probati" (bewährten Männer) – abzuhelfen. Nicht nur durch seine Aufforderung an die zuständigen Bischöfe, gemäß der Aufforderung des Papstes "mutige Vorschläge" zu machen, zieht der eloquente Kirchenvisionär den Un-Mut mancher Verantwortungsträger auf sich.

 

 

"Hybrid-Theologe des 21. Jahrhunderts"

 

Zulehners Laudatorin beim Ehrendoktorat in Cluj, Klara Csiszar, bezeichnete ihren früheren Uni-Lehrer als "Hybrid-Theologen des 21. Jahrhunderts", weil er sich sowohl der christlichen Tradition als auch der modernen Welt verbunden fühle. Zulehner setzt seit jeher auf soziologische Instrumentarien zum "organisierten Wahrnehmen der Realität", wie er im Gespräch mit "Kathpress" erklärte. Die Welt sei immer ambivalent, "sie ist nicht so dunkel, wie die Fundamentalisten sie gerne hätten, und sie ist nicht so schön, wie die euphorischen Optimisten sie sehen", es gebe Unterstützenswertes und Widerstand Erforderndes.

 

Die "Säkularisierung", der Zulehner 1973 seine Habilititationsschrift beim Würzburger Pastoraltheologen Rolf Zerfaß widmete, hält er mittlerweile für einen untauglichen Begriff, um die "bunt" gewordene religiöse Landschaft heutiger westlicher Gesellschaften zu beschreiben. Wo immer Freiheit ist, ist Vielfalt, zitierte Zulehner den von ihm geschätzten US-Religionssoziologen Peter L. Berger. Dass die Kirchenbindung seit Jahrzehnten nachlässt, beschreibt der Wiener Theologe als Wiederannäherung an den "biblischen Normalfall" - nämlich als Minderheit "Salz und Licht der Welt" zu sein. Die Blütezeit des Nachkriegs-Katholizismus sei "erzwungen", gewesen, "jetzt haben wir eine gewählte Katholizität".

 

Für die nötige "Restrukturierung der Kirche" im Sinne aufklärerischer Errungenschaften wie Gewaltenteilung und Geschlechtergerechtigkeit erwartet sich Zulehner, wie er sagte, mehr Impulse vom "Synodalen Vorgang" in Deutschland als von der Amazonien-Synode in Rom - wo es vorrangig um den Schutz der Schöpfung und Inkulturation gegangen sei. Papst Franziskus leiste mit seiner Dezentralisierung bzw. Synodalisierung jedoch einen wichtigen Beitrag und verweigere sich einem zentralistisch und dadurch viel leichter ausgeübtem Pontifikat.

 

 

"Verbuntung" wird anschaulich

 

Die "Verbuntung der religiösen Landschaft" zeigt sich auch in Zulehners wucherndem Garten mit vielen von ihm gepflanzten Bäumen und Blumen. Seine Vielseitigkeit stellt er auch schon mal durch einen selbstgebackenen Apfelkuchen unter Beweis, den er zum Interview serviert. Körperlich – und geistig – fit hält sich der umtriebige 80-Jährige, wie er erzählt, durch regelmäßiges Jogging im Wald hinter seinem Haus in Wien-Hietzing.

 

Vielleicht kommen ihm ja deshalb "laufend" Wortschöpfungen in den Sinn wie "Gottesgerücht", "Dach über der Seele", "Übergang gestalten, statt Untergang verwalten", "Leutereligion" oder eben "Verbuntung". Seine Kirchenvisionen fasst der deklarierte Optimist Zulehner immer wieder neu in griffige Prognosen: "In der Verflachung einer durchökonomisierten Nützlichkeitswelt werden die Leute wieder anfangen zu fragen: "War das jetzt alles?!" Spirituelle Fragen "über das Alltägliche hinaus" würden laut. Das sei noch keine Jesusnachfolge, weise aber in die richtige Richtung.

 

Auch in kommenden Generationen werde es Menschen geben, die in christlichen Gemeinschaften leben und Dienste an der Gesellschaft leisten - im Sinne der Absicht Jesu, dass ein bisschen vom Himmel auf die Erde kommt, zeigte sich Zulehner zuversichtlich. Um gesellschaftliche Strahlkraft zu entwickeln, dürfe sich heutiges Christentum nicht darin erschöpfen, "dass viele Gemeinden am Sonntag einen religiös verschönten Konditoreibesuch feiern". Es sei die "Kernschwäche" der Kirche, "dass wir zusammenkommen, aber Gott die Wandlungsbereitschaft verweigern und nicht anders rausgehen, als wir hineingegangen sind – hinein als um uns besorgte Angsthasen, hinaus als hoffnungskräftige Fußwaschende".

 

 

Polak würdigt "visionäre Pastoral-Projekte"

 

Unzählige der Kirchenreformen in Österreich wären ohne die empirischen Studien, die die Basis für Paul M. Zulehners visionäre Pastoral-Projekte bildeten, gar nicht denkbar": Mit diesen Worten hat die Wiener Theologin Regina Polak das Wirken ihres Vorgängers als Leiter des Universitäts-Instituts für Pastoraltheologie gewürdigt. Als Beispiele nannte sie "Großprojekte" wie die "Europäische Wertestudie", "Religion im Leben der Österreicher", seine "Männer-Studien" oder jene zum "Megatrend Spiritualität". Ebenso wegweisend sei die Gründung des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Werteforschung oder der Arbeitsstelle für kirchliche Sozialforschung gewesen. 

 

Polak äußerte sich in einem Gastkommentar in der Wochenzeitung "Die Furche" anlässlich des 80. Geburtstages von Paul Zulehner am 20. Dezember. Dabei rief sie auch die wissenschaftspolitischen Leistungen des bis heute "unbeirrbar hochaktiven" Theologen in Erinnerung - allem voran die Gründung des "Pastoralen Forums", eines Stipendienprogrammes für katholische und orthodoxe Theologinnen und Theologen aus den postkommunistischen Ländern. Zwischen 1992 und 2018 seien 128 Personen promoviert oder habilitiert worden, viele hätten mittlerweile hochrangige kirchliche Positionen in ihren Heimatländern inne. Für diesen "kaum zu überschätzenden Beitrag zur Entwicklung der Pastoraltheologie und Kirche in Ostmitteleuropa" erhielt Zulehner im November 2019 den Ehrendoktortitel der Universität Cluj (Rumänien).

 

Paul Zulehner sei  zugleich ein Gläubiger und ein Priester. "Dies trägt er nicht wie ein Banner vor sich her", schrieb Polak. "Aber vor allem anderen ist er ein Mann Gottes." Seine "furchtlosen, nicht selten provozierenden, aber immer loyalen Einmischungen" in Kirche, Gesellschaft und Politik bezeichnete die Theologin als "prägnante Entfaltung" des Prophetischen im Christentum.

 

"Pastorale Futurologie": Krise früh erkannt

 

Der Jubilar selbst kam am Donnerstagabend, am Tag vor seinem runden Geburtstag, in der Ö1-Sendereihe "Im Gespräch" mit Renata Schmidtkunz zu Wort. Zulehner erinnerte darin an seine Entwürfe einer "pastoralen Futurologie", die bereits in der Anfangszeit der Konziliaren Bewegung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung die Sorge reflektierte, dass das ökologische System kippen und die Menschheit in einer Sackgasse landen könnte. Wissenschaftler würden heute in Kassandrarufen vor den Folgen des herrschenden neoliberalen Wirtschaftssystems warnen, die Politik sei dafür aus "vielleicht vordergründigen, ökonomistischen Gründen taub", bedauerte Zulehner. Seine Warnung: Ein Wirtschaften, dem es nur um Profitmaximierung statt um das Gemeinwohl geht, "sägt sich den Ast ab, auf dem es sitzt".

 

Der Theologe verwies auf den französische Dominikaner Jean Baptiste Lacordaire, der bereits im 19. Jahrhundert den ungebrochen gültigen Grundsatz formulierte, dass der Freiheit immer Gerechtigkeit abzuringen sei. Und er hoffe, so Zulehner, dass einer möglichen schwarzgrünen Regierung die Balance zwischen Ökologie und Ökonomie besser gelingt als dies unter schwarzblau der Fall gewesen sei. Er sei beunruhigt darüber, dass sich in vielen europäischen Staaten rechtsgerichtete Strömungen mit ihrer "Politik der Angst" im Aufwind befänden, während die Sozialdemokratie in einer massiven Krise sei. Es brauche aber politische Kräfte, die glaubwürdige Anwälte der kleinen Leute sind.

 

In dem ausführlichen Gespräch mit Renata Schmidtkunz ging es u.a. auch um Gemeinschaften, in denen junge Männer und Frauen gemeinsam leben, die Bibel studieren und diakonale Projekte verwirklichen: So sollte nach Meinung Zulehners in Zukunft die Ausbildung in Priesterseminaren aussehen. Er äußerte auch seine Überzeugung, dass die Zeit des Zölibats und der Ausschluss der Frauen aus dem Priesteramt absehbar vorbei sei. Weitere Themen: Zulehners Engagement gegen sexuellen Missbrauch in der Kirche, der "Tango tanzende" Papst Franziskus und das Schwinden von Religiosität in der "Big Data"-Gesellschaft.

(Link: https://radiothek.orf.at/oe1/20191219/582521)

 

Paul M. Zulehner wird 80

Pastoraltheologe Paul M. Zulehner feiert seinen 80. Geburtstag. © Diözese Linz

 

Biografische Notizen

 

Paul Michael Zulehner hatte 24 Jahre lang den Lehrstuhl für Pastoraltheologie an der Universität Wien inne. Seine wissenschaftliche und publizistische Tätigkeit strahlt weit über die Grenzen Österreichs aus; seine besondere Sorge gilt der Unterstützung der Kirche in Ostmittel- und Osteuropa und dem Dialog der Religionen.

 

Zulehner wurde am 20. Dezember 1939 in Wien geboren, er studierte in Innsbruck, Wien, Konstanz und München Philosophie, katholische Theologie und Religionssoziologie. Bereits als 22-jähriger promovierte er in Innsbruck beim Sozialethiker P. Johannes Schasching SJ zum Doktor der Philosophie. Seine Dissertation aus dem Jahr 1961 trug den auch heute ungebrochen aktuell wirkenden Titel "Religion ohne Kirche?". 1964 wurde er in Wien zum Priester geweiht, zwei Jahre später folgte in Innsbruck das theologische Doktorat mit einer Arbeit über Kirche und Austromarxismus. Ende der 1960er-Jahre war Zulehner in die Leitung des Wiener Priesterseminars eingebunden.

 

Über die Stationen Bamberg und Passau führte Zulehners Weg an die Universität Wien, wo er von 1984 bis zum Herbst 2008 den Lehrstuhl für Pastoraltheologie innehatte. Von 2000 bis 2007 war er zudem Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät.

 

Von 1985 bis 2000 war Zulehner auch theologischer Berater beim "Rat der Europäischen Bischofskonferenzen" (CCEE). Vor 30 Jahren gründete er das "Pastorale Forum zur Förderung der Kirchen in Ost(mittel)europa", 1994 die Arbeitsstelle für kirchliche Sozialforschung. Zulehner ist Mitglied der Europäischen und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Für seine Forschungen wurde er vielfach ausgezeichnet und mit zwei Ehrendoktoraten (Erfurt und Cluj-Napoca) bedacht.

 

Ein wichtiges publizistisches Organ, durch das sich Zulehner in aktuelle Debatten in Kirche und Gesellschaft einbringt, ist u.a. sein Blog https://zulehner.wordpress.com.

 

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