Bischof Scheuer: Der Anfang der Sehnsucht
Einen sternenklaren Nachthimmel betrachten und bestaunen zu können, erlebe ich immer als Geschenk. Das ist gar nicht mehr selbstverständlich. Gerade in Städten sorgt das viele künstliche Licht dafür, dass das natürliche Licht der Sterne verschluckt wird. Man spricht von Lichtverschmutzung.
In den Berichten über die Geburt Jesu ist auch von einem hellen Stern die Rede, der den drei Sterndeutern aus dem Osten den Weg zum neugeborenen Gotteskind gezeigt hat. Die Dunkelheit der Nacht von Bethlehem ist durch das Licht des Sternes durchbrochen worden.
Das Weihnachtsfest durchbricht mit seiner einmaligen, unaustauschbaren Stimmung Jahr für Jahr den gewohnten Alltag einer ganzen Gesellschaft, egal ob jemand gläubig ist oder nicht. An diesem einem entscheidenden Moment im Jahr drängen sich Sehnsüchte in den Vordergrund, die sonst möglicherweise oft nachgereiht werden: nach Geborgenheit und Wohlgefühl, Behaglichkeit und Wärme, Heilung und Heilsein, Anerkennung und Liebe, Gemeinschaft und Zärtlichkeit. Kurzum nach Frieden und Licht.
Die Dunkelheit der Nacht von Bethlehem, durchbrochen durch das Licht des Sterns. © Gerd Altmann / www.pixabay.com CC0 1.0
Am Anfang dieser Sehnsüchte steht die Geburt eines Kindes in Bethlehem vor 2.000 Jahren. Christen glauben, dass Gott selbst in diesem Kind zur Welt gekommen ist. Die Erfahrung der Geburt ist ein Schlüssel für das Verstehen der Besonderheit von Weihnachten. Jeder geborene Mensch steht für einen Neuanfang, mit jeder Geburt eines Menschen kommt etwas Neues in die Welt. Es ist die Einmaligkeit des nun beginnenden Lebens, die eine Geburt so besonders macht. Diese positive Sichtweise auf die Welt wird zu Weihnachten erfahrbar, meint die jüdische Philosophin Hannah Arendt: „Dass man in der Welt Vertrauen haben und dass man für die Welt hoffen darf, ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien ‚die frohe Botschaft‘ verkünden: ‚Uns ist ein Kind geboren.‘“
Weihnachten kann einen Anstoß liefern, Vertrauen zu haben und sich auf neue Anfänge einlassen. Solche Anfänge sind möglich, wo Menschen einander verzeihen und einander nicht mehr auf das festlegen, was war, sondern ausprobieren, was sein könnte. Solche neuen
Anfänge sind möglich, wenn Menschen lernen, einander mit den Augen Gottes zu sehen. Solche Anfänge sind möglich, wenn Menschen in jedem Ende nach dem neuen Anfang suchen.
Um sich so von Weihnachten anrühren lassen zu können, legt sich der Vergleich mit einem Nachthimmel voller Sterne nahe: Es ist weniger die aufgekratzte Fröhlichkeit, die gelungene Inszenierung des Familienfestes, das Bemühen um Harmonie an den Feiertagen, die geeignet ist, an den Kern von Weihnachten zu kommen. So manches künstliche Licht deckt da mehr zu, als es erhellen kann. Vielleicht ist es das einfache „Danke“ für ein unerwartetes Geschenk, ist es die Stille nach dem Trubel, sind es die kleinen Zeichen der Liebe und Wertschätzung, die den Blick auf Weihnachten freimachen. Und schließlich sagt Gott seine Nähe gerade für die finsteren Winkel, die Einsamkeiten und Traurigkeiten des Lebens besonders zu.
Auch wenn man Weihnachten nicht festhalten kann, und man die Feiertage auch nicht einfach zum Alltag machen kann, so wünsche ich Ihnen, dass es Ihnen gelingt, weihnachtlich zu leben: als Menschen mit Zukunft und Hoffnung, als Menschen, die zur Liebe und zum Frieden fähig sind, als Menschen, die durch ihr Handeln Neues schaffen und zärtlich und behutsam sein können.
Frohe und gesegnete Weihnachten!
+ Manfred Scheuer
Bischof von Linz