Ohne Reformation keine europäischen Werte?!
„Die Zeit Luthers hat viele Ähnlichkeiten zur heutigen Zeit – eine mediale Revolution bahnte sich an, es war die Zeit der ersten Globalisierung und der Beginn einer neuen wirtschaftlichen Ordnung, die Angst vor den Osmanen verunsicherte nicht nur Kriegsführung, sondern die ganze Bevölkerung zutiefst und aus der Opposition zu religiösem Prunk und Verfall der kirchlichen Praxis entstand eine religiöse Krise und die Dynamik der Reformation.“ Mit diesem Vergleich begann der Historiker Roman Sandgruber seine Annäherung, dröselte die Komplexität und Breite des Themas auf und schlug einen historischen Bogen von der Zeit Luthers über dessen Bedeutung für Europa über die Jahrhunderte bis heute.
Superintendent Gerold Lehner drehte die Titel-Fragestellung um: „Wollen wir ein Europa ohne reformatorische Werte?“ oder „Was wäre, wenn Europa auf diese Werte bauen würde?“. In einem Dreischritt stellte er drei Narrative, nicht Werte (diese sind im Gegensatz zu identitätsbildenden Erzählungen kraft- und farblos) vor, die weder singulär noch exklusiv sind, jedoch Europäische Identität ausmachen: Erstens Luthers Grundanliegen, durch das Wort und nicht durch Gewalt Änderungen zu erreichen. Zweitens die Entwicklung, die von der sinnerfüllten Gründung, der Formatio, über die Phase der Deformatio zur Reformatio führte – in solch eine Entwicklung kann man auch die krisengeschüttelte „europäische Identität“ einschreiben. Und drittens die Betonung Luthers der „Dignitas Aliena“ – der von Gott geschenkten Gnade – die in der Frage der Menschenwürde auch und gerade heute befreiende Aspekte in Politik und Gesellschaft einbringen könnte.
Der Dogmatiker, Ökumenische Theologe und Rektor Franz Gruber führte in die kirchliche, historische und theologische Bedeutung Luthers ein, stellte seine Bedeutung für das moderne Europa aber zugleich in den Kontext anderer großer kirchlicher Denker wie Francisco de Vittoria aber auch der großen Theoretiker John Locke und Jean-Jaques Rousseau. Zudem seien viele europäische Entwicklungen gerade gegen die Kirchen ausgekämpft worden, wie man zuletzt in der Diskussion um die europäische Verfassung wahrnehmen konnte. Er schloss mit Jürgen Habermas, dass viele Werte und Begriffe auf die wir unser Europa bauen nur aus unserer religiösen Geschichte zu verstehen sind. Damit verbunden müssen wir neue Sprachen und Lösungen finden, um sie in unsere Zeit „hineinzuübersetzen“. Als gelungene Umsetzung führte er die Transformation des religiösen Begriffs der Gottebenbildlichkeit in den ethischen Begriff der Menschenwürde auf. Denn, so schloss er, die Religionen können „viel zu einem guten Leben mit stark eingelebten ethischen Überzeugungen“ in der Gesellschaft und für die Zukunft beitragen.
Anstöße aus allen drei Vorträgen wurden bei den Fragen aus dem Publikum und der anschließenden Begegnungen am Buffet intensiv diskutiert, sodass nicht nur die Geschichte, sondern auch die Herausforderungen für christliche Menschen in der heutigen Welt lebendig wurden.
Bischof Manfred Scheuer beschloss den Abend damit, dass 2017 als Dank-Jahr gefeiert wird – aus Dank für die tiefe Prägung in vielen Bereichen und das voneinander Lernen im Zusammenleben, die für die Herausforderungen gegenwärtiger Auseinandersetzungen fruchtbar werden können.
Der Moderator und Gastgeber Hochschul- und Akademikerseelsorger Markus Schlagnitweit brachte als weiteren Aspekt der Wertediskussion eine wichtige studentische Perspektive ein – Luthers Ausspruch: „Wer kein Bier hat, hat nichts zu trinken“ und überreichte den Referenten Bierkörbe als Geschenke.
Das Linzer Bläserensemble um Peter Karlhuber-Vöckl, Alois Oswald, Franz Hoffmann und Ortwin Galter sorgte mit klassischen evangelischen Posaunenchören für besondere Reformations-Stimmung bei der gut besuchten Veranstaltung in der neu renovierten Galerie und Mensa der Katholischen Hochschulgemeinde.