Eine demokratische Gesellschaft braucht die Religion
Die These des deutschen Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen Ernst Wolfgang Böckenförde stand am Beginn des Symposiums. Demnach kann ein säkularisierter Staat die Voraussetzungen für ein gutes Zusammenleben nicht von sich aus garantieren.
Hier setzt die Herausforderung und Aufforderung an die Religionsgemeinschaften an, nämlich die Religion nicht als reine Privatsache zu sehen, sondern grundsätzlich als öffentliches Ereignis.
Alle ExpertInnen des Nachmittags griffen diese Herausforderung auf und bezeichneten die christlichen Kirchen und Religionen als wesentlichen Beitrag zum Gelingen einer humanen Gesellschaft. Es sei Pflicht der Religionsgemeinschaften und christlichen Kirchen aus dem Privaten herauszutreten und die Gesellschaft mitzuformen und deshalb die Stimme zu Gerechtigkeit, Freiheit, Menschenwürde und Solidarität deutlich zu erheben. „ChristInnen sind nicht neutral aber auch keine Richter. Sie sind aufgefordert, sich zu beteiligen“, so der ehemalige Bundestagspräsident Thierse: „Eine demokratische Gesellschaft braucht die Religion!“
Menschenwürde als oberste Richtschnur
Der oberösterreichische Landeshauptmann Josef Pühringer glaubt nicht an einen Bedeutungsverlust der christlichen Kirchen heute. Die Leistungen der Kirchen werden anerkannt, die Bindungsbereitschaft der Menschen nehme allerdings ab und die Formen und Sprache werden nicht mehr verstanden. Ähnliches erlebt auch die Politik, so der oberösterreichische Landeshauptmann: Es gebe deutlich mehr Interesse an Politik, dies zeigt sich aber nicht in der Mitgliedschaft.
Eine demokratische Gesellschaft brauche beides, den inneren Zusammenhalt und die Wertegemeinschaft. Die Menschenwürde ist oberste Richtschnur und baut auf christliche Wurzeln auf. „Kein Humanismus kann die Würde des Menschen glaubwürdiger begründen als die Botschaft von der Gottebenbildlichkeit des Menschen“, bekennt sich Pühringer deutlich zum Christentum.
Laut Pühringer ist die Trennung von Kirche und Staat in Österreich unbedingt anzuerkennen, das entbinde die Kirchen aber nicht von der politischen Verantwortung: „Die Frage nach dem Sinn darf niemals zur reinen Privatsache gemacht werden. Wir brauchen die Wächterfunktion der Kirchen, um auf Schwächen und Fehler des politischen Systems hinzuweisen. Kirchen sind unverzichtbar im politischen Dialog, sie müssen eine prüfende Kraft bei Forschungsfortschritten sein und die Partei der Menschen in der Not sein. Politik und Kirche müssen das Angebot von Werten bereithalten. Jede auf ihrem Platz mit einem gemeinsamen Ziel vor Augen.“
Vertrauen zu Kirche und Staat fördern
Einen Blick in die Geschichte machte Oberkirchenrätin Hannelore Reiner und erläuterte den Beitrag der Reformation zur Klärung des Verhältnisses von Staat und Kirche. Luther formulierte 1520 die persönliche Gewissensfreiheit gegenüber staatlichen Zwängen: Der Christenmensch ist frei und niemandem untertan und zugleich jedem untertan in der Liebe.
Reiner stellte aber im gleichen Atemzug die Frage, wie Menschen heute zu einem neuen Vertrauen zu Kirche und Politik gelangen können. Sie nannte Beispiele, in denen sich die Zusammenarbeit von Kirche und Staat bewährt hat und Beispiele, die derzeit in der Diskussion mit der Politik stehen: Asylpolitik, Sterbehilfe, Religionsunterricht, Nachhaltigkeit, Vereinbarkeit Familie – Beruf.
Ein Beispiel eines wahrhaftigen Dialogs, der auch die Unterschiede und Konflikte nicht verschweige, sei die Zusammenarbeit in der Ökumene und mit den verschiedenen protestantischen Kirchen. Hier gelte der Leitspruch: „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“. Konflikte werden nicht verschwiegen, Vertrauen werde aufgebaut. Dies könne Vorbildwirkung für das Verhältnis von Kirche und Staat sein.
Kirche habe als Gegenüber zur Politik die Aufgabe, die soziale Gerechtigkeit, Würde, Mitbestimmung, Freiheit und Gnade einzufordern. „Wenn wir auf Gnade verweisen, bedeutet dies, dass Versöhnung möglich ist“, so Oberkirchenrätin Reiner.
ChristInnen sind nicht neutral, sie sind aufgefordert, sich zu beteiligen
Eine überraschende Vitalität attestierte der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse den Religionen in der Gegenwart und untermauerte die Bedeutung der Religion und der Kirchen für den säkularisierten Staat in seinen Thesen:
„Der Staat vertritt selbst keine Weltanschauung, um gerade so die Religionsfreiheit der BürgerInnen zu ermöglichen“, so Thierse. Umso wichtiger sei es daher für Religionen, aus dem Privaten herauszutreten und das Gemeinsame mitzuformen.
Es reicht nicht aus, dass über den Markt und die Arbeitskonzepte soziale Beziehungen geknüpft werden, es braucht eine grundsätzliche Übereinstimmung über das ethische Fundament einer gelingenden Demokratie. Dafür seien alle BürgerInnen verantwortlich, aber insbesondere die Kirchen und Religionen.
„Das Christentum ist ein prägender Teil Mitteleuropas und profitiert vom Engagement des Judentums und der Muslime. Der Staat bleibt auf Menschen angewiesen, die sich in Bezug auf Menschenwürde und Religion nicht neutral verhalten, sondern Soziales, Solidarität und Menschenwürde einfordern, vertreten und sich beteiligen.“ Thierse ruft in St. Florian die Kirchen auf: „Beteiligen Sie sich an der Gesellschaft, trotz Skandalen und einer umstrittenen institutionellen Zukunft. Sich jetzt zu verschließen, ist in einer offenen Gesellschaft die falsche Taktik.“
Thierse thematisierte die aktuelle Fremdheit und das Unverständnis den Kirchen gegenüber und forderte die Kirche auf, deshalb nicht flach und substanzlos zu werden. Es brauche zudem ein viel größeres Gewicht der Laien in den Kirchen, so Thierse: „Wenn sich ChristInnen am öffentlichen Vernunftgebrauch beteiligen, dann verlangt das, dass ChristInnen als BürgerInnen agieren. Hier geht es nicht nur um die Innenperspektive, sondern es muss auch die Perspektive der Nichtglaubenden eingenommen werden. Es braucht eine religiöse Übersetzung in nichtreligiöse Sprache und Denkzusammenhänge.“
Thierse betonte zum Schluss seines Statements, dass Politik auf keinen Fall für Erlösung zuständig ist. Dazu biete das Christentum mit dem Evangelium einen „absolut unhintergehbaren Maßstab“. Thierse: „Der christliche Glaube schützt vor einer Absolut-Setzung von Politik und vor Ideologisierung. Eine demokratische Gesellschaft braucht die Religionen.“
Religion als Beitrag zur „Tiefenpolitik“
Der Innsbrucker Bischof Manfred Scheuer startete mit einer provokanten Frage: „Sind die Religionen ein Problem für Europa?“
Scheuer thematisierte die Vorwürfe an das Christentum, in seiner Geschichte selber für die Ökokrise und die gesellschaftliche Entwicklung verantwortlich zu sein. Den monotheistischen Religionen wurde immer wieder mangelndes Freiheitsbewusstsein und daher fehlendes Demokratiebewusstsein vorgeworfen. In der Gegenwart habe in Mitteleuropa die wachsende Mehrheit der Bevölkerung aufgehört, an der traditionell rituellen Ausübung der Religion teilzunehmen. Dadurch sei ein Druck entstanden, die Religion in die Privatsphäre zu vertreiben. Es fällt daher schwer eine öffentliche Rolle einzunehmen.
Auf Seiten der Politik nimmt Scheuer wahr, dass ethische Fragen zu Fragen der Taktik und Konjunktur werden und derjenige, der an der „schlechten Gleichheit“ Anstoß nimmt, als intolerant hingestellt wird. Zur Selbstkontrolle einer demokratischen Gesellschaft sei aber Religion unentbehrlich, so auch der Innsbrucker Bischof: „Religion ist nicht nur nötig zur Begründung eines ethischen Handelns. Bei der Frage nach der Sinnhaftigkeit eines guten Handelns stellt sich die Frage nach Gott unbedingt. Die Katholische Kirche hat besonders seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil den klaren Auftrag, sich zu Fragen des Politischen zu äußern.“
Kirche könne einen Beitrag zur „Tiefenpolitik“ leisten. Sie müsse die Frage nach dem leitenden Menschen- bzw. Gesellschaftsbild hinter den politischen Dimensionen stellen. Sie müsse die orientierungsstiftenden Prinzipien eines Staates hinterfragen in Hinblick auf Gerechtigkeit, Gemeinwohl, Menschenwürde, Option für die Armen, soziale und ökologische Verträglichkeit.
Es sei zu kurz gegriffen, wenn Religion nur als Mittel zur
Kontingenzbewältigung/Leidbewältigung gesehen werde. Da würde Religion funktionalisiert: „Wer heute frei sein will, muss sich auf die Wurzeln und Quellen einlassen. Ohne Gang zu den Quellen verkarstet das Leben“, so Bischof Scheuer: „Es braucht Räume der absichtslosen Stille und Kontemplation, Unterbrechung. Genau an diesen Grenzfragen des menschlichen Lebens braucht die Politik die Religion.“
Symposium im Stift St. Florian zum Verhältnis von Politik und Kirchen
30.10.2014, 13.30-18.00 Uhr
Veranstalter:
Sozialreferat der Diözese Linz
Stift St. Florian
Katholisches Bildungswerk der Diözese Linz
Evangelisches Bildungswerk Oberösterreich
Institut für Pastorale Fortbildung (IPF)
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