Projekt Turmeremit
2009, als Linz KULTURHAUPTSTADT EUROPAS war, wurde im Mariendom – der größten Kirche Österreichs – die Türmerstube eingerichtet. Die Stube befindet sich über dem Trubel der Stadt auf rund 68 Meter Höhe. Sie steht Menschen offen, die sich in die Stille zurückziehen möchten. Die Eremitage ist ein Ort, der die Suche nach Sinn, dem Grund des Lebens, nach Gott wachhält und dazu anregt, die eigenen Lebensentwürfe zu bedenken.
Eremit:innen sind ein zentrales Phänomen der Menschheits- und Religionsgeschichte. Seit tausenden von Jahren ziehen sich Menschen zeitlich begrenzt oder für immer zurück, um einen neuen Blick auf das Leben zu bekommen und sich auf das Wesentliche auszurichten.
Raum der Stille
„Beschleunigungsgesellschaft“ (H. Rosa) und „Müdigkeitsgesellschaft“ (B-J. Han) sind einige der soziologischen Charakterisierungen, die Strukturen und Prägungen unserer gegenwärtigen Gesellschaft treffend auf den Begriff bringen. Sie decken auch damit verbundene Herausforderungen auf, die nach Gegenimpulsen suchen lassen. So wird die Sehnsucht nach Ruhe, Rückzug und Achtsamkeit in einer „Beschleunigungsgesellschaft“, die den Menschen antreibt, ohne ihn „vorwärts“ kommen zu lassen, groß.
Überforderung und Orientierungslosigkeit sind Momente, die in einer „Müdigkeitsgesellschaft“ überhandnehmen. Die christliche Tradition birgt unter anderem auch für die Suche nach einem lebensförderlichen Umgang mit den Herausforderungen unserer Zeit ein großes Potential in sich, welches teilweise lediglich erneut zutage gebracht werden muss. Ein Anliegen des Projekts Turmeremit ist es, die bleibende Relevanz des christlichen Glaubens in unserer Zeit spürbar werden zu lassen und dessen hilfreiche Unterstützung für die alltägliche Lebenspraxis aufzuzeigen.
Nicht sichtbar – und doch präsent
Die Türmerstube im Mariendom wurde im Zweiten Weltkrieg eingebaut und wahrscheinlich als Beobachtungsposten genützt, um etwaige Bombentreffer schneller lokalisieren und Hilfe koordinieren zu können. Die exponierte Lage bietet einen guten Überblick über die Stadt. Aufmerksame PassantInnen können am Abend das beleuchtete Fenster der Stube sehen – es ist ein Zeichen fürs Innehalten.
Der Mariendom ist für die Diözese Linz nicht nur kirchengeschichtlich relevant, sondern trägt als Bauwerk auch eine Botschaft in sich, die von gefeiertem Leben und christlicher Gemeinschaft erzählt. Die größte Kirche Österreichs erfährt durch die Eremitage eine besondere Ergänzung.
Schweigen mit der/dem Eremit:in
Am Freitag in der Eremit:innenzeit gibt es die Möglichkeit, der Eremitin oder dem Eremiten beim Mittagsgebet im Mariendom zu begegnen. So wird die Dimension des Schweigens auch im Alltag aktualisiert.