„Es werden Kunstschätze präsentiert, die im Tresor verwahrt sind“

Ein umfassendes Digitalisierungsprojekt des Mariendoms macht diese Objekte nun auf digitalem Weg für die Öffentlichkeit zugänglich. Im Interview erklärt uns Katrin Spindler, BArch, Assistentin des Dombaumeisters, alles rund um das zukunftsweisende Großprojekt.
Warum ist das Digitalisierungsprojekt so wichtig?
Katrin Spindler: Die Digitalisierungsarbeit dient in erster Linie der Grundlagenerhebung und schafft eine solide Basis für die künftige Vermittlungsarbeit am Mariendom. Viele Objekte sind aus konservatorischen Gründen bisher der Allgemeinheit nicht zugänglich und lagern — geschützt vor Staub, Sonnenlicht und Feuchtigkeit — in Planschränken oder Tresoren. Diese Schätze werden nun gehoben, digitalisiert und mit Metadaten versehen, um den Besucherinnen und Besuchern einen detailreichen Einblick in den Bestand der größten Kirche Österreichs zu geben. So können die Objekte barrierefrei, orts- und zeitunabhängig verfügbar gemacht werden. Speziell für jüngere Zielgruppen entsteht damit ein unkonventioneller Zugang zu einem historischen Bauwerk, wie auch allgemein zu Kunst, Kultur und Religion. Mit der Digitalisierung werden außerdem eine hochwertige Bestandssicherung und Dokumentation für künftige Generationen geschaffen.
Was wird im Rahmen des Projektes genau digitalisiert?
Katrin Spindler: Die Architektur des Mariendoms wird mittels Lasertechniken und Drohnenflügen vermessen und gescannt. Das Ergebnis ist eine detaillierte 3D-Punktwolke. Dieser digitale Zwilling lässt sich beispielsweise für virtuelle Besichtigungen einsetzen und eröffnet den Betrachterinnen und Betrachtern ungeahnte Blickwinkel, die vom Boden aus nicht zu erahnen sind. Die Digitalisierung umfasst außerdem das Planarchiv des Mariendoms, welches mit einer Anzahl von beinahe 3600 Dokumenten eine der umfangreichsten vollständig erhaltenen Plansammlungen darstellt, deren Inhalt sich auf einen einzigen Sakralbau bezieht. Neben den Bauplänen des ersten Dombaumeisters Vincenz Statz und kunstvollen Zeichnungen zu den Glasgemäldefenstern, sind auch unzählige Werksteinpläne, detailreiche Entwürfe zur Ausstattung, zu Papier gebrachte städtebauliche Überlegungen und eine Reihe von Korrespondenzen erhalten. Die Dokumente werden mittels Pixel-Shift-Multi-Shot Technologie digitalisiert. Parallel dazu erheben wir Metadaten wie Abmessungen und Maßstab, Planverfasser oder Datierung. Da viele Pläne nicht oder nicht ausreichend beschriftet sind, erfolgt dabei auch immer eine Einordnung des Inhalts. An den künftigen Vermittlungsstationen im Dom wird es eine Auswahl an besonders spannenden Plänen zu entdecken geben, die auch mit vielen Hintergrundinformationen präsentiert werden.
Die hochauflösenden Gigapixel-Fotografien der 77 kunstvoll gestalteten Glasgemäldefenster, die mit ihren feinen Schwarzlot- und Silbergelbmalereien wesentlich zum imposanten Erscheinungsbild des Domes beitragen, erlauben den Besucherinnen und Besuchern der Ausstellung, auf Touch-Bildschirmen in die Details der Fenster zu zoomen und Informationen über die dargestellten Personen zu erhalten. Auch ein Teil des Domschatzes wird als 3D-Scan aufgenommen. Damit werden interessierten Personen erstmals Kunstgegenstände präsentiert, die ansonsten hinter schweren Tresortüren verwahrt sind. Der berühmte Domschlüssel, von Stahlschneider Michael Blümelhuber aus einem 2kg schweren Stahlstück herausgeschnitten, oder die mit Edelsteinen besetzte Statz-Monstranz verfügen beispielsweise über eine überwältigende Anzahl an Details. Die fotogrammetrische Aufnahme dieser Kunstschätze ermöglicht es, die Objekte digital von allen Seiten zu betrachten und Details ganz nah heranzuholen.
Was passiert mit den Daten?
Katrin Spindler: Die fertigen Digitalisate werden Mitte des Sommers 2024 auf einer Datenbank der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Eine Auswahl an Objekten und deren Hintergrundinformationen lassen sich bereits ab dem Weihejubiläum Ende April an interaktiven Vermittlungsstationen im Mariendom erleben. Das Ausstellungskonzept wurde so gestaltet, dass die Stationen in variablen Abständen umgestaltet und mit neuen Digitalisaten und Informationen versehen werden können. Vor allem regelmäßige Besucherinnen und Besucher sind so immer wieder eingeladen, Neues zu entdecken.
Wer arbeitet am Digitalisierungsprojekt mit?
Katrin Spindler: Unser interdisziplinäres Team setzt sich aus einer Gruppe von Kunsthistorikerinnen und Kunsthistorikern unter der wissenschaftlichen Leitung von Dr. Christina Wais-Wolf von der ÖAW sowie Architektinnen und Architekten zusammen. Für die Digitalisierung des Gebäudes und der Kunstschätze begleiten unsere Arbeit außerdem Unternehmen, die sich auf die Erstellung von dreidimensionalen Punktwolken spezialisiert haben. In der Vermittlungsarbeit stehen wir in Kooperation und regelmäßigem Austausch mit dem Ars Electronica Center. Diese fachübergreifende Zusammenarbeit erlaubt eine technisch und inhaltlich intensive Auseinandersetzung mit der Materie.
Wie werden die Kunstschätze des Mariendoms digitalisiert?
Katrin Spindler: Bei der Digitalisierung des Gebäudes werden erstmals die Systeme der beiden Unternehmen qapture und Riegl Laser Measurement Systems zusammengeführt, um die Vorteile beider Methoden vollumfänglich zu nutzen. Der Mariendom dient dabei als Modellprojekt. Bei der Durchführung der Scans kommen unterschiedliche Lasertechniken zum Einsatz, die mit den Daten von Drohnenflügen ergänzt werden. Jene Stellen, die aufgrund einer Sichtbehinderung vom Laser nicht erfasst werden, können mithilfe der Drohne einsichtig gemacht werden. Die Ergebnisse werden im Anschluss zu einer dreidimensionalen Punktwolke verbunden. Dieses 3D-Modell lässt sich durch weitere Daten ergänzen, beispielsweise den hochauflösenden Gigapixel-Fotografien der Gemäldefenster, wodurch ein näheres Hineinzoomen zu ausgewählten Objekten möglich wird.
Für die Digitalisierung des Planarchivs kommt die Pixel-Shift-Multi-Shot Technologie zum Einsatz, wobei jeweils 16 RAW-Bilder aufgenommen und miteinander kombiniert werden. Diese Technik garantiert neben einer hohen Auflösung auch eine besonders gute Farbtreue. Eine besondere Herausforderung in der Umsetzung stellte auch die Digitalisierung der imposanten Glasgemäldefenster dar. In wochenlanger, schweißtreibender Arbeit und mit einem mehrere Meter hohen Stativ ausgerüstet, hat Fotograf Daniel Podosek jedes der 77 Domfenster mittels Gigapixel-Fotografie eingefangen. Die dabei erreichte Auflösung ermöglicht es den Betrachterinnen und Betrachtern, in alle Details der bemalten Scheiben zu zoomen. So ist sogar noch die bedauernswerte Fliege sichtbar, die in einem Spinnennetz vor einem der Fenster ihr Ende fand.
Die beweglichen Kunstschätze wurden von Dominik Juchum, dem Gesicht hinter dem Unternehmen digilithic, mittels Fotogrammetrie bzw. 360°-Fotografie aufgenommen. Dazu wurde in der Bischofssakristei ein riesiges, beleuchtetes Scanzelt aufgebaut, in dessen Zentrum die Objekte auf einem Drehteller platziert und von allen Seiten fotografiert wurden. Die daraus entstandenen RAW-Dateien wurden anschließend aufwändig bearbeitet und zu einem 3D-Modell zusammengefügt.
Haben Sie vielleicht eine besondere Erinnerung an die Umsetzung des Digitalisierungsprojektes?
Katrin Spindler: Bei der Aufarbeitung und Digitalisierung des Planarchivs stolpert man natürlich schon aufgrund der Fülle an Dokumenten immer wieder unerwartet über besonders spannende Pläne. Die Arbeit im Archiv gleicht einem komplexen Puzzle, das sich langsam und Stück für Stück zusammensetzt. Das erfordert einen langen Atem, ist aber auch sehr interessant. Man weiß nie so recht, was der nächste Plan für einen bereithält und welche Antworten er liefert.
Und auch abseits ihrer Arbeit als Assistentin des Dombaumeisters und ihrer Mitwirkung am Digitalisierungsprojekt ist der Mariendom für Katrin Spindler etwas ganz Besonderes: „Der Mariendom und seine Architektur begeistern mich tatsächlich schon viele Jahre. Als ich als Jugendliche für den Besuch einer Schule für künstlerische Gestaltung nach Linz zog, stellte der Dom aufgrund seiner beeindruckenden Dimensionen zuallererst einen wichtigen Orientierungspunkt und Anker im Gewirr der ‚großen Stadt‘ dar. Den hohen Turm immer im Blick, half er mir schlicht dabei, mich nicht zu verlaufen. Mit den Unterrichtsstunden in Kunstgeschichte und dem anschließenden Architekturstudium habe ich den Dom dann auch bald für seine Baukunst kennen und lieben gelernt. Man sieht eben nur, was man weiß – dieses Credo halte ich in Bezug auf Architektur für besonders zutreffend. Seitdem komme ich immer gerne in den Dom, um den Raum auf mich wirken zu lassen und auch, um für einen Moment dem Trubel der Stadt zu entfliehen. Die Atmosphäre im Kirchenschiff erlaubt einem wie an keinem anderen Ort, einmal tief durchzuatmen und zur Ruhe zu kommen.“
Tipp: Die neuen digitalen Vermittlungsstationen im Dom sind ab dem Festwochenende am 27. & 28. April 2024 verfügbar. Nähere Infos auf 100jahremariendom.at
Erstellt von Sarah-Allegra Schönberger | 04.04.2024 | Bauwerk