VorderGRUND
"So laß uns denn die Lilie und den Vogel, diese fröhlichen Lehrer betrachten. 'Diese fröhlichen Lehrer', ja, denn Du weißt, die Freude ist mitteilsam, und deshalb kann Niemand besser Freude lehren, als wer selbst fröhlich ist. Ein Lehrer der Freude hat eigentlich nichts Anderes zu thun, als selbst froh zu sein; wie sehr er sich auch anstrengen mag, Freude mitzuteilen – wenn er nicht selbst froh ist, so ist sein Unterricht unvollkommen. So ist nichts leichter als in Freude zu unterweisen – man braucht bloß selbst stets in Wahrheit froh zu sein. Aber es ist nicht so leicht allzeit fröhlich zu sein.
Doch draußen bei der Lilie und dem Vogel da ist allzeit Freude. Und sie kommen niemals so in Verlegenheit wie zuweilen ein menschlicher Lehrer, der nicht immer bei sich hat, was er lehren will, sondern in seinen Büchern. Wo Lilie und Vogel in der Freude unterweisen, da ist allzeit Freude, denn sie ist ja in der Lilie und in dem Vogel. Welche Freude, wenn der Tag graut und der Vogel frühe erwacht zur Freude des Tages; welche Freude, wenn auch in andrem Ton, wenn der Abend dämmert und der Vogel froh zu seinem Neste eilt; und welche Freude den langen Sommertag! Welche Freude, wenn der Vogel froh sein Lied beginnt, und er singt nicht bloß zur Arbeit, seine Arbeit ist Gesang. Welche neue Freude, wenn auch der Nachbar beginnt und dann der Chor einstimmt, bis es zuletzt wie ein Meer von Tönen ist, dem Wald und Thal, Himmel und Erde Wiederhall geben! – Welche Freude, wenn der Tau fällt und die Lilie erquickt, welche sich nun nach der Kühlung zur Ruhe schickt; welche Freude, wenn sie sich nach dem Bade wohlig in den ersten Sonnenstrahlen trocknet; und welche Freude den laugen Sommertag! O, betrachte sie doch, betrachte die Lilie und betrachte den Vogel. Welche Freude, wenn der Vogel sich bei der Lilie versteckt, wo er sein Nest hat, und wo es so unbeschreiblich heimlich ist, während er zum Zeitvertreibe mit der Lilie scherzt und spielt.
Welche Freude, wenn der Vogel hoch vom Zweige oder hoch oben aus der Luft nach dem Nest und nach der Lilie schaut, und die Lilie lächelnd ihr Auge zu ihm erhebt! Lebensfrohes glückliches Dasein, so reich an Freude. Oder ist vielleicht die Freude klein, weil sie sich über so Geringes freuen? O, kleinliches und trauriges Mißverständnis. Denn grade, daß sie über Geringes sich freuen, beweist, daß sie selbst voll Freude sind. Dies ist doch wohl so? Wenn man sich über gar nichts freute und doch in Wahrheit unbeschreiblich froh wäre, da bewiese das ja am allerbesten, daß man selbst voller Freude wäre wie die Lilie und der Vogel es ist. Wenn wir Menschen froh sein wollen, da brauchen wir so Vieles dazu, da ist so Vieles zu besorgen und zu beschaffen – und selbst wenn alles vorhanden wäre, würden wir gleichwol vielleicht nicht unbedingt froh. Denn dazu gehört eben, daß man selbst voll Freude ist.
Doch könnte man nicht ganz kurz angeben, welche Freude die Lilie und der Vogel lehren? Ja, das kann man leicht; es ist ja dasselbe, worüber sie selbst sich freuen, und das macht ihren Unterricht so einfach und klar.
Ihre Freude ist der heutige Tag, ist der Tag Heute – und daß sie gar keine Sorge haben für den andern Morgen, für den morgenden Tag. Das ist nicht Leichtsinn von der Lilie und dem Vogel, sondern ist die Freude des Stilleseins und Gehorsams. Denn wenn du schweigst in der feierlichen Stille, die in der Natur ist, so ist der morgende Tag nicht da; und wenn Du gehorchst, wie die Schöpfung gehorcht, so ist der Tag 'Morgen' nicht da, dieser unselige Tag, welcher die Erfindung der Geschwätzigkeit und des Ungehorsams ist. Aber wenn Stillesein und Gehorsam den Tag Morgen aus der Welt schaffen, so bleibt der Tag Heute – und der ist Freude, wie er es für die Lilie und den Vogel ist.
Was ist Freude und wann ist man froh? Wenn man sich selbst in Wahrheit gegenwärtig ist. Daß man ist, heute ist, das ist die Freude. Sie ist ganz und gar in der gegenwärtigen Zeit. Deshalb ist Gott selig, Er, der ewig sagt: 'heute'; er der ewig und unendlich sich selbst gegenwärtig ist und ewig von sich sagt: ich bin. Und deshalb sind Lilie und Vogel so froh, weil sie in Stillesein und unbedingtem Gehorsam sich selbst gegenwärtig sind am Tage 'Heute'.
'Aber'. sagst Du. 'die Lilie und der Vogel können es leicht'. Antwort: Du darfst mit keinem Aber kommen – lerne von Lilie und Vogel Dir so ganz gegenwärtig sein am Tage 'Heute', so hast Du auch die Freude. Doch, wie gesagt, kein Aber; denn es ist Ernst, Du sollst von der Lilie und dem Vogel Freude lernen. Noch weniger darfst Du Dir selbst wichtig werden und gegenüber der Einfalt des Vogels und der Lilie witzig sein wollen und sagen: »die Lilie und der Vogel kann es leicht, sie haben sich nicht einmal mit dem morgenden Tage zu plagen, aber der Mensch hat ja nicht bloß Sorge für den andern Morgen, was er essen soll, sondern auch für das, was er gegessen – und nicht bezahlt hat!' Nein, keinen Witz, der ungezogen die Unterweisung stört, sondern lerne von der Lilie und dem Vogel, worüber Du Dich freuen sollst.
Daß Du wurdest, daß Du da bist, daß Du heut das Nötige bekommst, um zu sein; daß Du wurdest und Mensch wurdest, daß Du sehen kannst, bedenke, daß Du sehen kannst und hören, daß Du riechen kannst und schmecken und fühlen, daß die Sonne für Dich scheint – und um Deinetwillen, daß der Mond beginnt, wenn Du müde wirst und die Sterne angezündet werden, daß es Winter wird und die ganze Natur sich verkleidet, sich vermummt, um Dich zu vergnügen, daß es Frühling wird und der Vogel kommt in zahlreichen Scharen, um Dich zu erfreuen, daß das Gras sprießt, daß der Wald so schön sich schmückt und Hochzeit feiert Dir zur Freude; daß es Herbst wird, wo der Vogel fortzieht, nicht um sich kostbar zu machen, o nein, aber daß Du seiner nicht überdrüssig werdest; daß der Wald seinen Schmuck verbirgt für das nächste Mal, um Dich von neuem zu erfreuen. Und das wäre nichts worüber man sich freuen könnte? O, eher möchte man sagen, wenn das nichts zu freuen ist, da giebt es nichts, worüber man sich freuen kann.
Bedenke, daß die Lilie und der Vogel voll Freude sind, und doch haben sie ja viel weniger sich zu freuen als Du, da Du Dich zugleich über die Lilie und den Vogel freuen kannst. Kannst Du Dich nicht froh sehen an der Lilie und dem Vogel, die ja die Freude selbst sind, kannst Du Dich nicht froh an ihnen sehen, daß Du willig wirst von ihnen zu lernen, so ist es bei Dir, wie wenn der Lehrer von dem Kinde sagt: 'Mangel an Begabung ist es nicht, außerdem ist die Sache so leicht, daß von Mangel an Begabung keine Rede sein kann; es muß etwas Anderes sein, indeß vielleicht nur, daß es nicht aufgelegt ist, was man nicht gleich zu streng nehmen und nicht gleich wie Ungehorsam oder Trotz behandeln darf.' [...]
Aber doch ist die Lilie und der Vogel unbedingt froh; und hier siehst Du recht, wie wahr es ist wenn das Evangelium sagt: Du sollst von der Lilie und dem Vogel Freude lernen. Bessere Lehrer kannst du ja auch nicht verlangen als die, welche unbedingt froh und die Freude selbst sind, obschon sie eine so unendlich tiefe Sorge tragen.
Wie macht dies die Lilie und der Vogel, was doch fast wie ein Wunder aussieht, wie machen sie es, daß sie in tiefer Sorge unbedingt froh sind, daß sie heute unbedingt froh sind, während es ein so schreckliches Morgen giebt? Sie benehmen sich ganz schlicht und einfach – das thun sie immer. Es giebt ein Wort vom Apostel Petrus, das haben Lilie und Vogel zu Herzen genommen und einfältig wie sie sind, nehmen sie es ganz buchstäblich – ach, und das grade hilft ihnen, daß sie es ganz buchstäblich nehmen. Es liegt eine ungeheure Macht in diesem Wort, wenn es ganz buchstäblich genommen wird, sonst ist es mehr oder weniger ohnmächtig, zuletzt nur eine nichtssagende Redeweise; aber es gehört völlige Einfalt dazu, um es ganz buchstäblich zu nehmen.
'Alle eure Sorge werfet auf Gott.' Sieh, das thun Lilie und Vogel unbedingt. Mit ihrem unbedingten Stillesein und unbedingten Gehorsam werfen sie alle ihre Sorge von sich, wie man fortwirft, was man verabscheut, und mit voller Sicherheit, ohne jemals zu fehlen, werfen sie ihre Sorge auf Gott. In demselben Nu sind sie unbedingt froh. Verwunderliche Gewandheit! Alle seine Sorge so auf einmal fassen können und dann so geschickt von sich werfen und so sicher das Ziel treffen! Das thun Lilie und Vogel; deshalb sind sie im selben Nu unbedingt froh. Und das ist ja ganz in seiner Ordnung; denn Gott der Allmächtige trägt unendlich leicht die Sorge der ganzen Welt – und die Sorge der Lilie und des Vogels dazu.
Welche unbeschreibliche Freude! Die Freude nämlich über den allmächtigen Gott."
(Søren Kierkegaard)
Quellenangabe:
Kierkegaard, Søren (1877): Die Lilien auf dem Felde und den Vögeln unter dem Himmel. Drei fromme Reden: Hohepriester – Zöllner – Sünderin. Drei Beichtreden. Übersetzung von Albert Bärthold. Halle: Julius Fricke Verlag.