TiefGRUND
Engelbert Guggenberger. Er ist nicht nur Generalvikar der Diözese Gurk-Klagenfurt, sondern auch leidenschaftlicher Kletterer und Bergsteiger. Schon seit Jahrzehnten will der Lesachtaler in den Dolomiten, den Karnischen und den Julischen Alpen hoch hinaus. Dort ist man dem Himmel bekanntlich ein bisschen näher.
Als er am Heiligkreuzkofel in den Dolomiten im Juli 2015 einen schweren Kletterunfall erlebt und einen Trümmerbruch im rechten Unterschenkel erleidet, stellt er sich in den Monaten seiner Rekonvaleszenz viele Fragen rund um das Klettern und dessen Stellenwert. Und er erkennt: Das alpine Klettern ist für ihn etwas, das weit über den Sport hinausgeht. Es vermittelt ihm Einstellungen und Haltungen, die nicht nur dort, sondern auch im Alltag, im Glauben und bei der Lebensbewältigung unterstützen. Aus diesen Gedanken ist das sehr persönliche Buch „In der Vertikale“ entstanden.
Vierzehn Touren – vierzehn Haltungen
„Alles beginnt mit der Sehnsucht“ – mit Nelly Sachs‘ Gedanken überschreibt Guggenberger sein erstes Kapitel und geht darin der Frage nach, warum Menschen überhaupt auf Berge steigen. Seine eigene Sehnsucht und Leidenschaft reichen weit in die Kindheit zurück: Denn schon mit drei Jahren stieg der kleine Engelbert mit seinen Eltern auf den Hausberg Peralba, der ihn stets vom Fenster aus magisch angezogen hatte.
In vierzehn Kapiteln beschreibt er ebenso viele ausgewählte, extreme Klettertouren und verbindet spezielle Erfahrungen und Erlebnisse in der Bewältigung derselben mit Einstellungen und Haltungen, die sich in den Alltag, in den Glauben, ins Leben abseits des Sports transferieren lassen. Auf kluge Weise setzt er die Erkenntnisse aus seinen Klettererlebnissen in Beziehung zum alltäglichen Leben – oder wie er selbst schreibt: „Das Wandern ist auch ein Hineingehen in mein Wesen, in meine Wahrheit, in meinen Kern.“[1]
Klettern als Weg zu sich selbst
Selbstverwirklichung und Selbstwerdung thematisiert Guggenberger ebenso wie die Entwicklung von Strategien zur Erreichung von Zielen und Träumen. Auch der Zustand des Flows wird vom Autor aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Als künstlerisch-schöpferischer Mensch weiß Guggenberger um die Bedeutung von Kreativität, für die es seiner Ansicht nach drei Grundzutaten braucht: Talent, Fähigkeit zum Querdenken und Leidenschaft. Dabei verliert er allerdings nie so wichtige Elemente wie Bitten, Danken und Staunen beim Streben nach dem Glück aus dem Blick.
Touren erfordern das Gefühl für eine gute Balance zwischen Unter- und Überforderung und lehren – nicht nur „in der Vertikale“ – auch das Gleichgewicht zwischen Bindung und Freiheit, verschaffen aber auch die Möglichkeit zu Entwicklung und Wandel. „Warten oder Wagen“ heißt es beim Klettern auch häufig – es bedarf des Mutes, Entscheidungen zu treffen. Und – wie Guggenberger betont – lernt man auch, die Touren selbst zu verantworten und die Verantwortung nicht an Gott zu delegieren. Wenn man in einer Gottesbeziehung lebt, fühlt man sich dann allerdings geborgener. Dort, wo man dem Himmel ein Stück näher ist, erfährt man also eine intensive Begegnung mit der Schöpfung und dem Schöpfer. Wen wundert es da, dass da oben in den Bergen (und auch durch die Musik) besonders tiefe Freundschaften entstehen?
Und ein paar von diesen Freunden und Kletterpartnern Guggenbergers lernt man in „In der Vertikale“ auch kennen, zum Beispiel Daniel Wernitznig, mit dem er den wohl längsten Weg seines Lebens (18 Stunden!) ging. Oder Roland Pranter, mit dem er auf den Torre di Valgrande kletterte und einen in einer Höhle vergessenen Rucksack etwas näher erklären musste.
Mit seinem Jugendfreund Stefan Stemberger pflegt er die längste Kletterfreundschaft seines Lebens und gemeinsam mit Irmgard Liebminger stellte er sich der Großen Mauer und ihren Schwierigkeiten und Gefahren. Und der Leser lernt auch Reinhard „Ranjo“ Ranner kennen, dessen Jodler schon zu seinem akustischen Markenzeichen avanciert ist und mit dem Guggenberger nicht nur das Klettern, sondern auch das Singen und die Spiritualität verbindet.
Kletterqueen Patrizia Schleinzer ist schließlich an seiner Seite, als er am Mittelpfeiler, der Schlüsselstelle der sagenumwobenen Tour von Reinhold Messner, abstürzt. Und man spürt die Bewunderung für Konrad Auer, der in unglaublichen Geschwindigkeiten in runden Bewegungen Wände hinaufturnt und ihn in nur neuneinhalb Stunden durch die gefürchtete Philipp-Flamm bringt. Und dann gibt’s da noch Franz Liegl, mit dem er in der Via Hasse-Brandler quasi eine verkehrte Riesentreppe begeht. Und nicht zuletzt ist noch die junge Italienerin Valentina Di Ronco zu erwähnen, die mit dem Generalvikar ihre allererste Mazzilis-Tour unternahm.
Brücken in andere Disziplinen
Wer nun Bedenken hat, dass er als Kletterunkundiger den Ausführungen dem Buch nicht folgen kann, kann diese getrost ad acta legen, denn zum einen gibt Guggenberger ein Glossar mit den wichtigsten klettertechnischen Fachausdrücken mit auf den Weg, zum anderen vermag er die Klettererlebnisse und Gedanken rundherum so lebhaft und anregend zu schildern, dass der Leser weiterliest, bis Seite 187 (sprich: die letzte) erreicht ist.
Guggenberger verbindet seine poetische, berührende und beeindruckende Reise in die Welt des Kletterns außerdem auch mit anderen Disziplinen wie Musik, Literatur, Philosophie, Psychoanalyse oder Theologie. Meisterhaft setzt der Autor diese wunderbar klugen intertextuellen und intermedialen Verbindungen ein: von Gryphius bis Hölderlin, von Novalis bis Stevenson, von Rilke bis Brecht, von Hemingway bis Kästner, von Saint-Exupéry bis Zwanger. Von Jung bis Frankl. Von Heidegger bis Rahner. Vom Bibelwort bis zu Anselm Grün. Von Beethoven bis Schubert, von Udo Jürgens bis zum Kärntnerlied.
Guggenberger schafft es, stets das rechte Maß an Zitaten und Gedanken zu finden und das Erzählte wortgewandt zu illustrieren. Dabei ist er selbst Schöpfer poetischer Sprachbilder wie der „Sehnsucht als Anker, den Gott in unser Herz geworfen hat“[2] oder der Bedeutsamkeit von Momenten, „in denen Ewigkeit in die Zeit einbricht“[3]. Immer wieder gerät der musikalische Guggenberger angesichts der holden Kunst auch ins Schwärmen: „In der Musik klingt die Ewigkeit an, in ihr sind Zeit und Ewigkeit miteinander verbunden. Sie geschieht in der Zeit, in Tönen, Melodien und Rhythmen, und zugleich ist ihr Wesen überzeitlich und zeitlos. In Jedem Ton klingt etwas an vom Geheimnis des Seins. Musik ist wohl der Ort, an dem Transzendenz am deutlichsten zu spüren.“[4] Und jeder Musikliebende weiß, was er fühlt, wenn er schreibt: „Ein Weg, bis an unserer Sehnsucht Rand zu gehen, ist die Musik. […] Durch die Musik entsteht ein Raum der Geborgenheit, in dem wir wohnen können.“[5]
Gekonnt webt er auch Rückblicke in seine Kindheit und Jugend oder andere Familiengeschichten in die Kapitel ein. Humorvolle Anekdoten – wie zum Beispiel mit seinem Neffen und Kletterpartner Marian Guggenberger (Stichwort: „Onkel Engelbert, komm auf den Teppich!”) – kommen nicht zu kurz und beleuchten so auch den privaten Engelbert Guggenberger.
Drei Blicke zum Glück (oder vielleicht doch vier?)
Wer nun glaubt, Guggenbergers Buch vermag ausschließlich auf das Interesse von Kletterfreunden zu stoßen, irrt: indem er es auf kluge Weise schafft, den Bogen von der Klettertour ins geistliche oder weltliche Leben zu spannen, ist „In der Vertikale“ auch ein empfehlenswertes Buch für all jene, die zwar keine Kletterrouten gehen, aber am (inneren) Weg sind. Denn unterwegs auf seinem kleinen Weg verrät der kletterbegeisterte Generalvikar, was ihn auf seinem großen (Lebens-) Weg zwischen Himmel und Erde hält... Guggenbergers Kurzformel lautet nicht umsonst „Erdverbunden – himmelwärts“ – die Kraft aus dem Boden ziehen und sich nach oben ausrichten.
In einem Kapitel widmet sich der Autor „drei Blicken zum Glück“ – vorwärts, aufwärts und zurück. Als weiteren Blick zum Glück empfiehlt sich noch ein vierter Blick – und zwar jener ins Buch „In der Vertikale“ von Engelbert Guggenberger…
Zum Autor:
Engelbert Guggenberger, 1953 im Lesachtal geboren, studierte nach seiner Matura am Gymnasium Tanzenberg Theologie und Philosophie an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. 1978 wurde er in Rom zum Priester geweiht, bevor er 1982 mit einer Dissertation über Karl Rahner, für die er den Kardinal-Innitzer-Preis erhielt, promovierte. Seine seelsorglichen Wege führten ihn als Kaplan nach Gmünd, als Pfarrprovisor nach Bad Kleinkirchheim, St. Oswald, Pörtschach am Berg, Projern sowie nach Amlach und Molzbichl, bevor er Pfarrer in der Stadtpfarre Spittal an der Drau und Dechant des gleichnamigen Dekanats wurde. Fast zehn Jahre war Guggenberger außerdem Regens und Direktor des Bischöflichen Seminars „Marianum“ Tanzenberg. Seit 2008 ist Guggenberger Generalvikar der Diözese Gurk.
Die Sommermonate seiner Kindheit verbrachte Guggenberger in den Karnischen Alpen am Hochweißsteinhaus, das sein Vater als Hüttenwirt bewirtschaftete. In dieser Zeit wurde Guggenbergers Begeisterung für Berge und die Leidenschaft für Kletterabenteuer geweckt. Doch es ist auch die Musik, die den Generalvikar fasziniert: er spielt nicht nur Gitarre, Kontrabass und Klavier, sondern singt auch gerne, u.a. beim Singkreis ars musica Althofen.
Buchtipp:
Engelbert Guggenberger (2017): In der Vertikale. Was mich zwischen Himmel und Erde hält. Wien - Graz - Klagenfurt: Styria Verlag. 191 Seiten. ISBN: 978-3-22213-553-8.
Bestellmöglichkeit beim Behelfsdienst der Diözese Gurk
Anmerkungen:
[1] Guggenberger, Engelbert (2017): In der Vertikale. Was mich zwischen Himmel und Erde hält. Wien - Graz - Klagenfurt: Styria Verlag. S. 23