AbGRUND
Ein Lied vom fern-nahen Gott: „Stimme, die Stein zerbricht“ (GL 417)
Gottes Nähe wird in Liedern oft besungen. Aber wie ist es, wenn er fern bleibt in der Nacht des Glaubens und der Leere des Gebets? Klagepsalmen und Propheten kennen auch diese Erfahrung. Von ihr handelt dieses Lied.
Einen Gesangbuch-Beitrag aus dem Norden singen wir hier. Mit einer doppelten Heimat sogar, denn die Worte stammen aus Schweden, die Melodie aus Norwegen. Dichter des Textes ist der schwedische Hofprediger und Lyriker Anders Frostenson (1906–2006). Die Vertonung schuf der bekannte norwegische Komponist Trond Kverno (*1945), der im Nebenberuf als Bischof seiner evangelischen Freikirche in Oslo wirkt. Die deutsche Übersetzung verdanken wir dem Berliner Theologen Jürgen Henkys (1929–2015), der hunderte von Liedern aus anderen Sprachen ins Deutsche übersetzt hat.
Im Original steht vor der ersten Strophe eine Bibelstelle, wie auch bei vielen alten Liedern. Dieses Lied greift Jesu Wort aus Mk 6,50 auf: „Seid getrost, ich bin es. Fürchtet euch nicht.“ So führt das Lied die Singenden mitten in eine neutestamentliche Geschichte. Die in einem Fischerboot kauernden und verängstigten Jünger – was für ein Bild für den entglittenen Grund ihres Lebens und Glaubens! – halten Jesus, der ihnen auf dem See entgegenkommt, für ein Gespenst. Er aber beruhigt sie und mit ihnen alle, die das Lied singen: „Hab keine Angst, ich bin da.“
Jede Strophe läuft auf die Schlusszeile zu: „... ich bin da“ (1 und 2), „Ich bin’s“ (3) und „Du bist hier“ (4). Verschieden sind jedoch Zeit und Ort jeder Strophe. Die erste spielt in neutestamentlicher Zeit und überall da, wo das Lied erklingt. Die zweite weitet den Horizont, weil nun Momente der alttestamentlichen Schöpfungsbotschaft anklingen. „Vor Nacht und Tag“ sprach Gott schon das Ja-Wort zu seiner guten Schöpfung. Alles hat er so gegründet. Längst schon vor meiner Antwort, die „Nein und Ja“ heißen kann. Seine Stimme trägt alles. Mose hört sie aus dem Dornbusch: „Ich bin, der ich sein werde“ (Ex 3,14).
Auf die Schöpfung folgt im Lied die Erhaltung als „Neubeginn“. Gottes Stimme also nicht nur dort und damals, sondern hier und jetzt, „wo ich auch sei“. Und dann könnte das Lied mit der dritten Strophe enden. Das wäre doch schön: Gottes Stimme, damals wie heute und überall! Aber so einfach ist es nicht. Die klangvolle Stimme verstummt und Leere bleibt zurück. Jetzt kommt es auf die Erinnerung an und auf das geduldige Ausharren. Warum mutet Gott die Leere zu, die das Lied in einen schweigenden Gedankenstrich übersetzt? Wichtiger als vorschnelle Antworten ist das Aushalten der Leere: „... teilen die Leere wir“. Nur wenige Lieder wagen es, auch das Fehlen Gottes ins Wort und in den Klang zu bringen.
Eine Frage bleibt: Wessen Stimme zerbricht sogar den Stein? Dieses Bild ist eine Anregung zum Nachdenken. Ist es die Stimme Gottvaters, die den Stein vor Jesu Grab zerbricht? Schon im Alten Testament kennt der Prophet Jeremia das Wort Gottes, das „wie ein Hammer den Felsen zerschmettert“ (Jer 23,29). Unser Lied besingt die leise Stimme Gottes. Deshalb ist ihm im Gotteslob mit „ruhige punktierte Viertel“ ausnahmsweise sogar eine Tempo- und Charakterangabe vorangestellt.
(Meinrad Walter)
Quellenangabe:
Walter, Meinrad (2017): Ein Lied vom fern-nahen Gott: „Stimme, die Stein zerbricht” (GL 417) - Liedportrait. URL: www.meinrad-walter.de [Stand: 03/2017]