„Ich verehre den heiligen Franziskus, aber ein wenig schüchtert er mich auch ein...”
Mit einem Brief von Poulencs Großneffen Jérôme im Sommer 1948 nahm die Geschichte der Komposition „Quatre petits prières de Saint Francois d’Assise” (FP 142, deutsch: „Vier kleine Gebete des heiligen Franz von Assisi”) ihren Anfang. Dieser lebte als Mönch im Franziskanerkloster Champfleury bei Poissy und bekam zufällig französische Übersetzungen von vier (dem heiligen Franziskus von Assisi zugeschriebenen) Gebeten in die Hände. Sogleich sandte er diese mit der Bitte um Vertonung an seinen Großonkel und bot ihm statt einer finanziellen Entlohnung folgendes: „Ich versichere Sie meiner Gebete wie derjenigen des ganzen Klosters.”
Wie hätte der gläubige Katholik Francis Poulenc je ein solches Angebot ablehnen können? Und so vertonte Poulenc die Gebete innerhalb weniger Wochen nach der Anfrage seines Neffen in seinem Haus in Noizay. Die im Spätsommer 1948 vollendete Komposition widmete er den Franziskanermönchen von Champfleury und verriet: „Ich verehre den heiligen Franziskus, aber ein wenig schüchtert er mich auch ein. Auf jeden Fall wollte ich mit der Vertonung seiner so wunderbar anrührenden Gebete ein Zeichen der Demut setzen.”
Die Vertonungen der vier Gebete „Salut, Dame Sainte” („Sei gegrüßt, heilige Frau”), „Tout puissant, très saint” („Allmächtiger, allerheiligster”), „Seigneur, je vous en prie” („Herr, ich bitte dich”) und „Ô mes très chers frères” („O meine liebsten Brüder”) wurden durch den Klosterchor in Champfleury im Rahmen einer liturgischen Feier uraufgeführt, über die Poulenc an den Chorleiter schrieb: „Die Atmosphäre von Klarheit und Vertrauen, die in Ihrem Ensemble zu spüren ist, berührt mich tausend Mal mehr als die Arbeit mit Berufskünstlern, die während eines Konzerts zwanzigmal auf die Uhr schauen.” Auch außerhalb dieser Klostermauern entfalten diese Klänge jedoch ihre ganz besondere Wirkung – bis heute.
Mit der Verschmelzung archaischer Elemente mittelalterlichen Klostergesangs mit der für Poulenc charakteristischen progressiven Harmonik schafft er eine mystische Stimmung. Einfach erscheinen die homophon eingebetteten Melodien, die in ihrem Rhythmus dem Duktus der Sprache folgen, zu singen sind sie jedoch kein bisschen einfach: im Rhythmus bleibendes, nicht enden wollendes Legatissimo ist gefragt, um den Puls der Musik, der Botschaft spürbar zu machen. Welche musikalische Widmung an das Wirken des heiligen Franziskus von Assisi!
Quellenangabe:
Blaich, Doris / Bossert, Dorothea (2012): Musikstück der Woche vom 27.2.-4.3.2012: Fromm, aber süffig: Francis Poulenc: Quatre petits prières de Saint Francois d’Assise. (Manuskript [Stand: 10/2016]). In: SWR2 Musikstück der Woche, 24. Februar 2012, 13.05 Uhr.
Blaich, Doris / Bossert, Dorothea (2012): Musikstück der Woche vom 27.2.-4.3.2012: Texte und Übersetzungen: Francis Poulenc: Quatre petits prières de Saint Francois d’Assise. (Manuskript [Stand: 10/2016]). In: SWR2 Musikstück der Woche, 24. Februar 2012, 13.05 Uhr.
Poulenc, Francis (1954): Entretiens avec Claude Rostand, Paris: R. Julliard. S. 159.
Bild: Francis Poulenc (und Wanda Landowska (1879-1959) im Jahr 1930 (Link zum Bild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Francis_Poulenc_and_Wanda_Landowska.jpg). © Bibliothèque nationale de France/wikimedia.org/PD
(sp)