mehr ver- und zutrauen
Menschen mit Downsyndrom unterscheiden sich sehr voneinander – ihre einzige Gemeinsamkeit sind die 47 Chromosomen. Jeder und jede hat eine eigene Lebensgeschichte, spezielle Begabungen und besondere Fähigkeiten, von denen manche versteckt sind und nur darauf warten, entdeckt zu werden. Dieses Erkennen von Stärken im Sinne eines Perspektivenwechsels – weg vom Fokus auf das, was vermeintlich fehlt, hin zum Fokus auf das, was da ist – ist ein unglaublicher Motivationsschub für Menschen mit Trisomie 21. Vertrauen und Zutrauen – das sind die Schlüssel zu einem gelingenden Leben … für uns alle.
vertrauen.
Noch immer werden Menschen mit Downsyndrom unterschätzt … selbst wenn sie wie Chris Nikic Sportgeschichte schreiben. Denn der 1999 geborene Amerikaner beendete 2020 in Florida als erster Mensch mit Trisomie 21 einen Ironman – in 16 Stunden, 46 Minuten und 9 Sekunden bewältigte er 3,86 Kilometer schwimmend, 180,25 Kilometer radfahrend und 42,20 Kilometer laufend. 2021 setzte er beim Boston-Marathon einen weiteren Meilenstein für Menschen mit Downsyndrom – nach 6 Stunden, 1 Minute und 22 Sekunden erreichte er das Ziel. „Das größte Problem ist, dass die Leute denken, wenn man länger braucht, kann man das nicht“, resümiert Nikic, selbst inzwischen Buchautor und Motivationsredner. Er vertraute immer darauf, dass er es schaffen kann – nicht umsonst lautet sein Motto: „Jeden Tag ein Prozent besser werden!“ Damit ist er ein wunderbarer Beweis dafür, dass es Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten braucht – oder wie Pippi Langstrumpf in Bezug aufs Klavierspielenkönnen so schön sagt: „Wie soll ich das wissen, wenn ich es noch nie versucht hab?“
zutrauen.
„Nehmt uns für voll! Gebt uns die Zeit, die wir brauchen, aber stresst uns nicht – wir können das doch!“ – Dazu ruft die Wienerin Johanna Ortmayr (*1994) als erste Präsidentin von Down-Syndrom Österreich, die selbst ein Extrachromosom hat, auf. Gemeinsam mit dem aus Salzburg stammenden Vizepräsidenten Michael Sebald setzt sich die ausgebildete Tanzassistentin dafür ein, dass Menschen mit Downsyndrom wahr- und ernstgenommen werden, einen Platz in der Gesellschaft haben, ein normales Leben führen können und Teilhabe an Bildung und am Arbeitsmarkt haben. Denn Menschen mit Downsyndrom sind nicht nur schlaue und glückliche Menschen, wie Ortmayr betont, sondern ganz normale Menschen, die keinen Sonderstatus brauchen. Einfach total normal. Für Menschen, die sie wegen ihres Extrachromosoms bemitleiden, hat sie darum ein hilfreiches Rezept: „Ich bemitleide sie einfach zurück!“
anvertraut.
„Was ist denn Dir wichtig für Menschen mit Downsyndrom?“, fragen wir unsere Tochter Marion. Spontan antwortet sie: „Dass wir akzeptiert werden, einen Beruf haben, der uns glücklich macht, und jeder und jede eine Wohnung findet, um dort Freundinnen und Freunde zu haben.“
Marion ist eine selbstbewusste Frau, sie hat durch unser Zutrauen viel gelernt und gemeistert: Sie lacht gerne, ist ein lebender „Geburtstagskalender“ (sie weiß alle Geburtstage ihrer Freundinnen und Freunde, von Bekannten und Verwandten auswendig, ebenfalls aller Mitglieder der schwedischen und englischen Königshäuser), ist ein Fan von Kaiserin Sisi, verfolgt die Ereignisse der Adeligen in Schweden und England, liebt Musik, hat Klavier gelernt, spielt Veeh-Harfe, kann die Gebärdensprache, tanzt gerne, malt, macht Zumba, fährt Rad, schwimmt und fährt Schi. Ihre Lieblingsspiele sind DKT, Rummy, Skip-Bo, Kniffel, Rummikub und Mensch ärgere dich nicht, außerdem spielt sie mit Begeisterung Federball und Boccia. Und bei den Special Olympics in Vöcklabruck 2018 hat sie eine Gold- und eine Silbermedaille im Bowling gewonnen.
begleitet.
Wichtig für Marion sind Begleiterinnen und Begleiter, die ihr etwas zutrauen und auf ihre Fähig- und Fertigkeiten vertrauen:
Familie. Wir sind alles mit ihr und nichts ohne sie. Wir sprechen Mut zu: „Du schafft es!“ Wir schenken das Vertrauen: „Du bist nicht allein – wir begleiten Dich!“
Freundinnen und Freunde. Zum Spaßhaben. Zum Zuhören. Zum Beistehen. Zum Lachen. Zum gemeinsamen Erleben. Zum Ausbrechen aus dem Alltag. Zum Glücklichsein. Wofür Freund:innen eben so da sind.
Mutmacher:innen, Beobachter:innen, Zuhörer:innen. All die Menschen mit Herz, die unserer Tochter Vertrauen schenken, die sehen, dass in ihr Talente schlummern, die gefördert werden „wollen“.
Behörden. Hartnäckig kämpfen wir gegen die Steine, die uns aus Mangel an Empathie und Menschlichkeit oft in den Weg gelegt werden. Damit Potentiale und Fertigkeiten anerkannt werden. Damit uns zugehört wird.
gebraucht.
Gratwanderungen sind es immer, zwischen Fördern und Fordern, zwischen Überforderung und Unterforderung, zwischen Selbstbestimmung und Unterstützung. Menschen mit Downsyndrom brauchen:
Lebenslanges Lernen. Neben einer selbstverständlichen Teilhabe an Bildung von Geburt an träumen wir von einer Down-Syndrom-Akademie nach deutschem Vorbild, die lebenslanges Lernen fördert.
Horizonterweiterndes (Er-)Leben. Bildung ist wichtig, aber es braucht auch andere Anregungen und Angebote, Erlebnisse, die den Horizont erweitern und zum Lebensglück beitragen. Ob Klavierspielen oder Singen, Tanzen oder Schifahren, Malen oder Fotografieren – solche Erlebnisse bereichern.
Strukturiertes Arbeiten. Unternehmen, die sich ihrer „Besonderheit“ annehmen und gut strukturierte Arbeitsabläufe anbieten, die den jeweiligen Wünschen und Fähigkeiten sowie einem individuellen Lerntempo entsprechen, wissen, welch wertvolle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sie beschäftigen.
Funktionierendes Interagieren. Entwicklung ist nur möglich durch Interaktion mit anderen: Freund:innen, mit denen man aus dem Alltag ausbrechen kann. Menschen, die spüren lassen, ein wertvoller Teil der Gesellschaft zu sein. Vereine, in denen Inklusion vor Ort ganz selbstverständlich stattfindet.
Autonomes Wohnen. Ein freier, gut betreuter Zugang zu Wohnungsangeboten und das Leben in (inklusiven) Wohngemeinschaften mit Gleichaltrigen ermöglichen Menschen mit Trisomie 21 ein selbstbestimmtes Leben.
Nur gemeinsam können wir etwas bewegen. Integration muss wieder mehr Platz in unserer Gesellschaft haben – bis zur Inklusion ist es noch ein weiter Weg …
erwünscht.
Von Herzen wünschen wir uns aufgeklärte Menschen, die Marion mit offenen Armen empfangen, eine tolerante Gesellschaft, die Marion in ihrem Leben nicht „behindert“, und eine kluge Welt, die Marion in ihrer Einzigartigkeit als Geschenk erkennt und Begegnungen mit ihr als Bereicherung erlebt.
Ein gelingendes Leben und eine glückliche Familie lassen sich nicht an der Anzahl von Chromosomen messen. Wir können Sie nur ermutigen: Lassen Sie sich auf die Einzigartigkeit von Menschen mit Downsyndrom ein! Sie werden merken – es lohnt sich.
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