mehr leben
Ich bin ein wenig hin und her gerissen. Eingeladen wurde ich, meine Gedanken zu teilen, vermutlich weil ich gut mit Worten jonglieren kann, und auch weil bekannt ist, dass ich vor mittlerweile sechs Jahren meinen Papa auf seinem letzten Lebensweg begleitet hatte. Für diese schöne und schreckliche Zeit bin ich zutiefst dankbar. Es ist tatsächlich herz-zerreißend, wenn man jemandem, den man liebt, sagt, dass er oder sie gehen kann, loslassen darf ... obwohl das das Allerletzte ist, das man sich wünscht.
Der Blick zurück ist gut, traurig und voller Liebe. Aber heute, möchte ich auch von jener Person erzählen, die immer für uns da ist, und zwar nicht nur gedanklich, ganz real und sehr flexibel: meine Mama. Sie lebt in der Nähe von mir und meiner Familie. Sie ist immer für uns da und für sie hat das Da-Sein für uns überhaupt nichts mit Zeit-Haben zu tun. Das Auto bleibt liegen, Mama leiht uns ihren fahrbaren Untersatz. Der Termin dauert länger, Mama springt ein und kocht für Kind und Kegel. Unseren Gastschüler verwirrt etwas, Mama packt ihre Englischkenntnisse aus und fragt nach ...
Es scheint, dass Liebe und Fürsorge auch außerhalb von Raum und Zeit existieren.
Meine Mama hatte auch nicht nur rosige Zeiten in ihrer Biographie. Aber schon immer den Hang, sie rosiger zu machen. Hinfallen, sich selbst am Schopf ziehen und wieder aufstehen. Den eigenen Werten treu bleiben.
Es ist vermutlich kein „Mehr“ an Zeit, das wir brauchen, wir würden es uns weniger wünschen, diese Sehnsucht, endlich für etwas Zeit zu haben, wenn wir die Augenblicke, die wir haben, wahrnehmen, gestalten, genießen und mit Leben und Liebe füllen.
Als mein Papa gestorben war, die ersten Tage und Wochen danach, suchte ich immer nach einem Zeichen. Ich dachte, so ein spiritueller Mensch wie er wird irgendwo etwas umfallen lassen oder ein Geräusch machen ... etwas, wo ich ihn erkenne. Ich war regelrecht enttäuscht, dass einfach nichts war. Nur er war weg.
Mein Papa ist Mitte März 2016 verstorben. Und dann, Mitte April, fing ich an, einen schwarzen Raben wahrzunehmen. Immer war er da ... oder sehr oft. Und siehe da, plötzlich, für meine Begriffe rasch, war er nicht mehr allein. Plötzlich bauten zwei Raben in unserer riesigen Linde ein Nest. Da war es mir sonnenklar, das musste Papa sein – oder zumindest seine Energie. Mein Papa hatte ein sehr turbulentes und kompliziertes Liebesleben. Aber immer die Kraft, Menschen für sich zu begeistern und hie und da auch Nesterl zu bauen. So war der Frühling 2016 tieftraurig und wundervoll zugleich.
Die Zeit, die wir haben, jetzt und heute, soll mit Gefühlen und Begegnungen angereichert werden. Was wirklich zählt, ist die Liebe.
Für meine Eltern. | Rainer Maria Rilke: „Wenn es nur einmal so ganz stille wäre“ (Sprecherin: Maria Otruba)