Im Dialog: Musik und Spiritualität
Musik und Religion – das ist ein Thema mit vielen Variationen. „Singt und spielt“ heißt die Aufforderung der alttestamentlichen Psalmen. Sie gilt bis heute, im Judentum wie im Christentum. Die Bibel kennt aber auch einen Propheten namens Amos, der die Musik heftig kritisiert, wenn sie ungerechte Zustände mit verlogenen Klängen beschönigt: „Weg mit dem Geplärr eurer Lieder!“ ruft er seinen Zeitgenossen zu. Und letztlich ist auch die Kirchenmusik wie eingespannt zwischen den Polen „irdisch“ und „himmlisch“. Die irdischen Mühen – vom Üben-Müssen über die verstimmte Orgel bis zum finaziellen Risiko der schlecht besuchten, aber teuren Aufführung mit „Soli, Chor und Orchester“ – gelten auch im Raum der Kirche. Zu den großen religiös-musikalischen Verheißungen aber gehört die Musik der Vollendung, etwa der Gesang der Engel um Gottes Thron. Das Besondere der christlichen Musikauffassung besteht gerade darin, dass die Erdenklänge schon ein „Präludium“ der Himmelmusik sein wollen – wenn sich das in besonderen Momenten so ereignet, wofür es keine Garantie gibt.
Musik in der Kirche kennt heute viele Klangfarben: vom Ruf der Glocken über den Gemeindegesang mit alten und zeitgenössischen Liedern bis zur Orgelmusik, deren Entwicklung oft mit dem Orgelbau eng verbunden ist; vom Gregorianischen Choral – als dem frühestem bis heute lebendigen musikalischen Repertoire insgesamt – über den mehrstimmigen Chorgesang der Kirchen-, Jugend- und Kinderchöre bis zu Neuen Geistlichen Liedern, Popmusik und Gospels. Neben Komposition und Interpretation spielen in der liturgischen wie konzertanten Kirchenmusik auch die instrumentale und neuerdings die vokale Improvisation eine große Rolle.
Musik hat in der Kirche ein Standbein und ein Spielbein. Das Standbein ist der Gottesdienst, der ohne Musik nicht vorstellbar ist. Das Spielbein ist die konzertante Musik, die alle religiösen Themen aufgreift und in Klänge übersetzt: Musik als Bibelauslegung, als Predigt in Tönen und als komponiertes Gebet.
Was macht die religiöse Musik aus? Zentral ist das gelingende Zusammenspiel vokal und instrumental, von Interpreten und Hörer, Werk und Raum. Johann Sebastian Bach nannte dies „andächtige Musik“, und ihm war gewiss, dass dabei sogar Gottes „Gnadengegenwart“ zwar unsichtbar, doch hörbar mit spielt. Bisweilen stehen Werke im Mittelpunkt, die – man mag es bedauern – der Liturgie entwachsen sind: Bachs in lutherischer Tradition stehende Passionen oder Claudio Monteverdis „Marienvesper“.
Vieles ist ökumenisch in der Kirchenmusik. Schließlich sind die Probleme auf allen Seiten ähnlich. Es geht um Nachwuchsfragen und um die Sicherung der Qualität. Die „Neue Musik“ ist eine wichtige Stimme, denn sie verbindet den alten Impuls der Psalmen „Singet dem Herrn ein neues Lied!“ mit der Klangwelt der Gegenwart. Neu meint jedoch nicht ausschließlich „kalendarisch neu“. Dietrich Bonhoeffer: „Neu ist das Lied, das uns neu macht; auch wenn es ein altes Lied ist.“ Ganz in diesem Sinne fordert ein Osterlied aus dem Gebet- und Gesangbuch „Gotteslob“ die Sängerinnen und Sänger auf: „Gib deinen Liedern neuen Klang“.
Musik in der Kirche lässt sich schon längst nicht mehr auf eine Stilrichtung festlegen. Die geschichtlichen Wandlungen, denen die Kirchenmusik unterworfen war und ist, dürfen wir als Chance ergreifen. Welche Musik bewährt sich in welchen konzertanten, liturgischen und seelsorglichen Kontexten? Die Liturgie kann heute durch viele Musikstile sinnvoll bereichert werden, wenn sie in angemessener, qualitätvoll dargebotener und aufeinander abgestimmter Form (und das heißt auch Dosierung) erklingen. Dass das nicht nur mit traditionellen Musikstilen gelingen kann, zeigen die vielerorts beliebten Taizé-Gesänge, Lobpreislieder und der gesamte Bereich des mit popmusikalischen Elementen qualitätvoll spielenden Neuen Geistlichen Liedes. Solche zunächst von Kirchen- und Katholikentagen bekannte „Musikfarben“ sind aus dem kirchenmusikalischen Gesamtspektrum beider großer Konfessionen schlichtweg nicht mehr wegzudenken. Entscheidend ist – im Blick auf Komposition, Interpreation und liturgische Integration – die Qualität. Aber das gilt für die Gregorianik genauso wie für Mozarts Messen, für den Gemeindegesang ebenso wie für das Orgelspiel.
Musik ist „sanft missionarisch“ (Kardinal Karl Lehmann), indem sie, wenn sie Klangräume eröffnet, auch spirituelle Räume erschließt. Dabei geht es nicht zuerst um die persönliche Frömmigkeit des Komponisten, sondern um die spirituelle Sprachkraft seiner Werke. Verkündigung geschieht oftmals in den „Obertönen“, zumeist absichtslos. Musik vermittelt – „Gott sei Dank“ – keine Transzendenz-Garantie. Ihre religiösen Themen kann sie nicht beweisen. Aber sie bringt all dies symbolisch ins Spiel und vertraut darauf, dass das Publikum zwischen den Notenzeilen auch die Botschaft hört und sich vom Geist der geistlichen Musik treffen lässt.
„Musikalische Spiritualität“ heißt: nicht in seinen engen Grenzen verharren; etwas erleben in und mit der Musik, das mehr ist als das Resultat des Übens und Probens. Eine dieser Grenzüberschreitungen ist die vom „Ich“ zum „Wir“. Im Singen, Spielen und Hören stiftet die Musik Gemeinschaft und führt die Versammelten zu innerer Sammlung. Dies lässt sich keineswegs nur in Aufführungen „klassischer“ Musik erleben. Auch Popstars wie Sting oder Herbert Grönemeyer halten existenzielle und spirituelle Fragen musikalisch wach. Die kirchlichen und kirchenmusikalischen Antworten könnten noch stärker den Dialog suchen mit jenen, deren Sternenhimmel leer ist, die aber dennoch „religiös musikalisch“ geblieben sind, sei es auf klassischen oder popmusikalischen Wellenlängen.
Nach einem geistlichen Konzert mit einer Uraufführung fragte einer der Mitwirkenden: „War dieses musikalisch gute Konzert nicht viel eher ein Gottesdienst?“ Ähnliches mag auch für viele Hörerinnen und Hörer gelten. Wenn sie, nachdem sie als Konzertbesucher gekommen sind, eine Stunde der Sammlung oder gar einen musikalischen Gottesdienst erlebt haben, dann sind auch die Interpreten und Veranstalter reich beschenkt.
Meinrad Walter, 1959 im badischen Neuried/Schutterzel geboren, studierte Theologie und Musikwissenschaft in Freiburg und München. Nach seiner Promotion mit der Arbeit „Musik – Sprache des Glaubens. Zum geistlichen Vokalwerk von Johann Sebastian Bach“ (1994) betätigte sich Walter in der Wissenschaft (Universität Freiburg), im Journalismus (Südwestrundfunk) und im Verlagswesen (Benziger Verlag Zürich). Seit 2002 arbeitet er als Referent im Amt für Kirchenmusik der Erzdiözese Freiburg, seit 2013 fungiert er außerdem als stellvertretender Leiter des Amts. Daneben ist Meinrad Walter Herausgeber von Geschenkbüchern für Musikliebende und Autor von Programmtexten und Publikationen im Grenzgebiet von Musik und Spiritualität. Auch Workshops zu zahlreichen Themen hat der umtriebige Musiker im Repertoire. Seit 2008 lehrt Walter außerdem Theologie/Liturgik an der Musikhochschule Freiburg, wo er auch 2012 zum Honorarprofessor ernannt wurde.
musizierend – schreibend – lehrend