Im Interview: Jakob Böttcher
Komponieren bedeutet für mich …
Die Welt um uns herum hat so viel Seltsames, Verrücktes, Irrsinniges, überall. Komponieren bedeutet für mich, dieses Seltsame zu erkennen und Begeisterung dafür zu entwickeln — und es dann in etwas Künstlerisches zu verwandeln, was die Strangeness, die man selbst spürt, für alle erlebbar macht.
So würde ich meinen Kompositionsstil beschreiben …
Ich finde meine Begeisterung meist in Alltagsklängen, und häufig in dem, was nicht klingen soll: meiner ratternden kaputten Festplatte, einer merkwürdigen Melodie, die die Straßenbahn beim Bremsen macht, oder einem technischen Störgeräusch (wovon ich als Tonmeister viele kenne). Oder ich finde die Inspiration in der Seltsamkeit des Klanges von Sprache, wie im Stück für Linz. Haben Sie mal darauf gehört, aus was für komischen Geräuschen sich unser Sprechen zusammensetzt?
Mit diesen kompositorischen Mitteln habe ich für den Linzer Mariendom komponiert …
Mein Stück für den Dom bedient sich eines einzigen — wie ich finde sehr aktuellen, wenn auch kontextentrissenen — Satzes aus dem zweiten Psalm: „Warum toben die Völker?“. In fünf kleinen Miniaturen lehne ich mich an den Ablauf von Messen an, wie sie auch Bruckner komponiert hat, und beleuchte in jeder Miniatur eines der Wörter dieses Satzes (das Fragezeichen ist für mich auch eine Art Wort). Die Worte habe ich jeweils von allen Seiten betrachtet und versucht, das, was mich an ihnen fasziniert, in den Miniaturen hervorzustellen. Eigentlich nehme ich also diesen Satz unter die Lupe. Gleichzeitig fließen Bruckners e-Moll-Messe und der Klang der Glocken in das Stück ein.
Wie sich mein Bild Anton Bruckners durch die Kompositionswerkstatt verändert hat …
Bruckner begegnet mir ständig, und trotzdem waren wir noch nie so richtig warm geworden. Das hat sich mit dem Projekt tatsächlich geändert: denn abseits der Blockhaftigkeit seiner musikalischen Struktur, die ich — aber in ganz anderer Form — auch irgendwie in mir habe, habe ich eine Liebe für seine Form der „Strangeness“ entdeckt.
Diese Erfahrung im Rahmen der Kompositionswerkstatt war für mich prägend …
Für mich war es ein absolutes Erlebnis, in der Türmerstube wohnen und komponieren zu dürfen. Normalerweise komponiere ich häufig leider zwischen Tür und Angel und habe tausend verschiedene Sachen am Tag. Sich mal drei Tage am Stück auf die Komposition konzentrieren zu können, war prägend. Außerdem habe ich Bibelübersetzungen verglichen, und dabei bemerkt, welch unterschiedliche Worte man für ein und dieselbe Sache benutzen kann. Das erinnert mich irgendwie an musikalische Variation und war total spannend zu entdecken.
Der Linzer Mariendom feiert 2024 seinen 100. Geburtstag. Für mich ist er …
... ein wirklich beeindruckender Raum. Als Tonmeister fasziniert mich vor allem seine Akustik, die es so spannend gemacht hat, für ihn zu komponieren: der Nachhall ist sehr hell, und dadurch entsteht das Phänomen, dass man gleichzeitig eine wirklich gigantische Hallfahne anregt und trotzdem über dreißig Meter Entfernung verständlich ist. Ein akustisch total spannendes Scheinparadoxon.
Die Zeit als Turmeremit war für mich …
Es war eine wunderbare Erfahrung, sich ganz aufs Komponieren zu konzentrieren. Die Tatsache, dass man sich inmitten, aber weit über der Stadt befindet, überträgt sich irgendwie in ein Gefühl, über den Dingen zu sein, eine Außenperspektive einzunehmen. Das ist für einen Kompositionsprozess sehr wertvoll. Außerdem habe ich fasziniert den Glocken zugehört und ihre Klänge analysiert und transkribiert.
Spiritualität meint für mich …
Mein Zugang dazu ist einer, der auch über die Musik geht: es meint für mich, in den Bann von etwas gezogen zu sein, im positiven Sinne völlig eingenommen von der Schönheit oder Vollkommenheit einer Sache, flüchtig, aber in dem Moment dafür umso heftiger.
So hat meine Spiritualität die entstandene Komposition beeinflusst …
Ich komponiere häufig zuerst Zustände, die quasi noch keine zeitliche Ausdehnung haben. Mein Verständnis von Spiritualität hilft mir, den zeitlichen Spannungsbogen einer Komposition zu fühlen und zu kreieren. Ich komponiere, was mich selbst in den Bann zieht.