"Wir brauchen Musik..."
Nikolaus Harnoncourt hat vor einigen Jahren bei der Eröffnungsrede der Salzburger Festspiele eine Analyse unserer Gesellschaft angestellt und dabei folgendes Bild verwendet: Bei der Erschaffung der Welt hat Gott dem Menschen in die eine Hand einen Hammer, in die andere eine Geige gegeben.
Es scheint heute, dass wir die Geige aus der Hand gelegt haben und wir nur noch mit dem Hammer unterwegs sind.
Der Hammer steht für: Arbeit, das Zweckhafte, Nutzbringende. Leistung, das Lebensnotwendige, für Geld, Macht, Politik, Wirtschaft, Konkurrenz, Gewinn, für das Berechenbare und Sich-Rechnende, für das Mach, für das, was wir uns erarbeiten und was jeder für sich herausschlägt. Theologisch: Die Werke: das, was wir durch unsere Leistung verdienen.
Die Violine steht für: Spiel, Kunst, Musik, Literatur, Poesie, Theater, das Nutzlose, Religion, für Großzügigkeit, Sensibiliät, Virtuosität, Zärtlichkeit, für Freundschaft und Liebe, für das Humane, für alles, was uns geschenkt wird. Theologisch: Die Gnade: das, was uns unverdient als Geschenk zukommt.
Literatur, Sprache und Musik haben sehr viel gemeinsam. Jede Sprache hat ihren eigenen Rhythmus und wir sprechen von der Sprachmelodie. Ideale Vokalmusik ist jene, in der Text und Musik zu einer Einheit verschmelzen und in der die Musik das im Wort Gesagte verdichtet und verstärkt. Die Inhalte werden zur Botschaft und erreichen über die Musik nicht nur unser Ohr und Hirn, sondern auch unser Gemüt und unsere Seele.
Wir alle, die wir uns mit Literatur und Musik beschäftigen, beschäftigen uns mit dem, was unser Leben im Letzten lebenswert macht.
Auf der Suche nach dem Glück und dem Wunsch nach einem erfüllten Leben müssen wir feststellen, dass es nicht nur in unserer Hand liegt, was sich an unseren Lebensplänen erfüllt und was nicht. Vieles, vielleicht die entscheidenden Dinge, wird uns geschenkt. Wer sein Leben religiös interpretiert, wird es in einen größeren Horizont gestellt wissen, und die Kunst, die Literatur und die Musik können uns helfen, eine Ahnung zu bekommen von dem, was über unsere unmittelbar erfahrbare Welt hinausgeht, was Himmel ist, jener Zustand, wo „einmal alles gut sein wird”.
Ingeborg Bachmann beschriebt unsere Lebenssituation so – und dies gilt auch für unser Tun im Sinn der Kunst und Kultur:
„Zuzeiten sind wir Dachbewohner und pfeifen von allen Dächern. In anderen Zeiten leben wir in Kellern und singen, um uns Mut zu machen und die Furcht im Dunkeln zu überwinden. Wir brauchen Musik. Das Gespenst ist die lautlose Welt.”[1]
Literatur, Kunst, Musik sind Möglichkeiten, in denen menschliches Leben verdichtet (im zweifachen Wortsinn) wird.
Bachmanns Beschreibung der Lebenswirklichkeit gilt auch im kirchlichen Bereich für die Gestaltung des Kirchenjahres, wo wir Hochfeste feiern und wo es Zeiten des Kellers, des Dunkels und auch des Verstummens gibt.
Aber – um im Bild zu bleiben – ist es nicht weithin so, dass wir uns bequem im Erdgeschoss eingerichtet haben und uns scheuen, auf das Dach oder in den Keller zu steigen. Ein Leben im Stand by-Modus.
Die Freude und Lust an Kunst und Kultur kann uns und andere beflügeln und uns dabei hin und wieder aus der Alltäglichkeit heraussteigen lassen und ein Fenster öffnen in jene andere Welt, die wir Himmel nennen.
Hermann Hesse hat dies auf die Frage, wer Mozart für ihn sei, so ausgedrückt:
"MOZART. Das bedeutet: die Welt hat einen Sinn, und er ist uns erspürbar im Gleichnis der Musik."[2]
[1] Bachmann, Ingeborg: Die wunderliche Musik [1964]. In: Koschel, Christine / von Weidenbaum, Inge / Müller, Clemens (Hrsg.) (1978): Ingeborg Bachmann – Werke. Bd. 4: Essays, Reden, vermischte Schriften. München / Zürich: Piper: S. 45-58. S. 54.
[2] Hesse, Hermann: Tagebuch [1920]. In: Michels, Volker (Hrsg.) (2001): Hermann Hesse. Sämtliche Werke. Bd. 11. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Erstmals erschienen in: Esterl, Ursula / Petelin, Stefanie (Hrsg.) (2013): ide (informationen zur deutschdidaktik) – Musik. Nr. 2/2013. Innsbruck: StudienVerlag. S. 131-132.