In der Stille reifen
Die Leere, in die uns der Kreuzestod Jesu entlässt, ist ein guter Ort, diesem zentralen Symbol der Christenheit einmal nachzusinnen. Das Kreuz ist für viele Menschen ein alltägliches Zeichen. Sie tragen es als Amulett um den Hals, es hängt als Möbelstück oder als Kunstwerk in der Wohnung. Diese Gewohnheit und Gewöhnlichkeit stumpft gegenüber der Wirklichkeit des gekreuzigten Jesus ab. Manche brauchen Opfer, Leiden und Kreuz, um anderen ein schlechtes Gewissen einzureden. Man kann das Kreuz Jesu als Keule, als Vorwurf gegen andere Menschen benutzen. Und schließlich eignen sich Schmerz und Tod als aufregende Unterhaltung, die man konsumieren kann.
Heute am Karsamstag können wir unseren Blick ein letztes Mal auf den leidenden Jesus zurückwenden, aber auch auf die Gesichter von gezeichneten Menschen, auf die Gesichter von Kindern, die schon von klein auf geschlagen sind, auf die Gesichter von Jugendlichen, die keinen Platz in der Gesellschaft finden und frustriert sind, auf die Gesichter von leiblich und physisch Kranken, auf die Gesichter von Sterbenden. Es gilt in der Stille und der Leere des heutigen Tages einmal wahrzunehmen, nicht wegzuschauen, nicht vergesslich zu werden. Und es gilt, hinter dem Dreck und dem Schmerz die Würde, die Kostbarkeit und auch die innere Schönheit dieser Menschen zu sehen.
Wir beten als Christen nicht das Leiden und das Kreuz an sich an. Wir brauchen nicht eigenmächtig um eines asketischen Ideals willen Leiden und Kreuz suchen und von uns her ergreifen. Wohl kann kein Mensch völlig achtlos an der Leidensteilnahme vorübergehen und sich der Solidarität mit den Leidenden verweigern. Er würde als kalt, als herzlos, ja als Unmensch gelten. Wahre Liebe kann den anderen „gut leiden“, d. h. ich mag dich, ich finde dich sympathisch, aber auch: Ich halte dich aus, ich ertrage dich, ich nehme dich auch mit deinen Neurosen und deinem inneren Schweinehund an. Wer an einem Menschen nicht auch gelitten hat, der kennt ihn nicht und der liebt ihn auch nicht.
Wie können wir Christen dem Leid begegnen? Von Jesus her sollen wir das Leid lindern, mindern oder verhindern. Widerstand ist dort notwendig, wo es gilt, vermeidbares Leid abzuschaffen; Ergebung und Annahme dort, wo Leid nicht überwunden, sondern nur ertragen und im Licht der Auferstehung Christi in Hoffnung verwandelt werden kann. All dies kann in der Stille des Karsamstags, wenn wir auf das leere Kreuz des Herrn zurückblicken, in uns reifen.
Quellenangabe:
Scheuer, Manfred: In der Stille reifen. In: Scheuer, Manfred (2013): Eine Spur von Ewigkeit.
Freiburg im Breisgau: Verlag Herder GmbH. S. 79–81.