Homosexualität - den Menschen sehen
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Das Thema „Homosexualität“ ist noch immer ein Tabu, hat aber in den letzten Jahren und Jahrzehnten zunehmend an Aufmerksamkeit gewonnen und sorgt für unterschiedliche Bewertung und Diskussion.
Ausgehend vom humanwissenschaftlichen Befund sollen die biblischen Texte befragt und die traditionelle moraltheologische Bewertung hinterfragt werden.
Homosexualität als vorwiegende oder ausschließliche erotische und sexuelle Ausrichtung auf das eigene Geschlecht ist tief in die Persönlichkeit eingeschrieben und macht einen wesentlichen Aspekt des Personseins aus. Das psychosexuelle Interesse ist dauerhaft auf das gleiche Geschlecht festgelegt und prinzipiell stabil und unveränderlich („Neigungshomosexualität“/„Homotropie“). Etwa fünf Prozent der Menschen dürften ausschließlich gleichgeschlechtlich ausgerichtet sein. Eine größere Gruppe ist bisexuell orientiert mit unterschiedlicher Betonung der homosexuellen Komponente.
Eine Variante menschlicher Sexualität
Homosexualität hat nichts mit Krankheit und Perversion zu tun. Sie ist eine Variante und Ausdrucksform menschlicher Sexualität und als sexuelle Orientierung neben der Hetero- und Bisexualität anzusehen. Eine „Umpolung“ im Sinne einer fremdbestimmten Änderung der sexuellen Orientierung ist ausgeschlossen. Sie bildet sich - wenn sie nicht überhaupt anlagemäßig, zumindest als Disposition, vorgegeben ist - schon in den ersten Lebensjahren heraus und liegt als irreversible Persönlichkeitsstruktur vor.
Da sie schon im frühen Kindesalter grundgelegt und vor der Pubertät abgeschlossen ist, kann es zwar eine „Verführung“ zu homosexuellen Handlungen geben, aber keineswegs zu einer homosexuellen Ausrichtung. Heranwachsende können nicht zu etwas „verführt“ werden, das ihnen nicht eigen ist.
„Es gilt heute als gesichert, dass die jeweilige sexuelle Orientierung in einem komplexen psychosomatischen Zusammenspiel genetischer, hormoneller und psycho-sozialer Faktoren sehr früh, schon vor der Geburt und in den ersten Kindheitsjahren erworben wird und danach nicht veränderbar ist. Es gibt daher auch keine Verführung zur Homosexualität an sich, nur zu homosexuellen Handlungen. Ein Homosexueller kann einen Heterosexuellen in seiner sexuellen Orientierung ebenso wenig umpolen, wie heterosexuelle Erfahrungen einen genuin Homosexuellen von seiner Neigung befreien könn(t)en.“ - Kurt Loewit
Die Lebenswelt homosexueller Frauen und Männer ist immer noch von Tabuisierung, Vorurteilen und Klischees, sozialer Ächtung und Diskriminierung bestimmt. Dies hat Auswirkungen auf die psychische Situation homosexueller Frauen und Männer, beeinträchtigt die Identitätsfindung („coming out“) und das Selbstwertgefühl und damit auch die Liebes- und Bindungsfähigkeit.
Die Angst homosexueller Menschen, abgelehnt und verachtet zu werden, als homosexuell nicht erwünscht zu sein, geht bei manchen so weit, dass sie sich vor sich selbst nicht zugestehen können, homosexuell zu sein. Sie kann sogar zu Selbsthass führen und so eine vergiftende Wirkung auf das Leben davon Betroffener haben. Es muss daher Aufgabe von Therapie und Seelsorge sein, homosexuellen Menschen zu helfen, zu einer klaren Bejahung ihrer homosexuellen Gefühle zu finden.
Homosexuelles Verhalten heterosexueller Menschen
Die Bibel verurteilt homosexuelle Handlungen (Gen 19; Lev 18,22.20,13; Röm 1,26f; 1 Kor 6,9f; 1 Tim 1,10) als Laster der Heiden. Im Alten Testament stehen sie unter Androhung der Todesstrafe. Nach dem Neuen Testament sind sie eine Folge der Verkennung Gottes und ein Zeichen der sittlichen Verirrung. Die Ablehnung der Homosexualität steht aber jeweils in einem bestimmten Kontext: Verletzung des Gastrechtes, sakral-kultische Prostitution, Vergewaltigung, Päderastie, homosexuelle Handlungen als Ersatzhandlungen, Vertauschen der Geschlechterrollen. Homosexuelle Handlungen widersprechen außerdem der Pflicht der Juden, Nachkommenschaft zu zeugen.
Homosexualität im Sinne einer Veranlagung, einer den ganzen Menschen prägende Disposition und Identität oder als Ausdruck einer personalen Liebesbeziehung erscheint außerhalb des möglichen Gesichtsfeldes. Es ist innerhalb des biblischen Denkens nirgendwo ein Ansatz zu finden, der vom Bewusstsein der Faktizität von so etwas wie einer konstitutionellen Homosexualität zeugen würde. In keiner Weise scheinen die biblischen Schriften von der Annahme auszugehen, dass Homosexualität anlagebedingt sein könnte und haben von daher immer homosexuelles Verhalten von eigentlich Heterosexuellen im Blick. Eine irreversible homosexuelle Veranlagung oder Neigung, wie sie in unserm heutigen Verständnis von Homosexualität entspricht, ist der Bibel unbekannt.
„Die Heilige Schrift konnte Homosexualität nicht verurteilen, weil sie sie nicht kannte.“ - Stephan Goertz
Es handelt sich also um zeitbedingte Aussagen, die eine einfache Anwendung der sittlichen Wertung der Bibel auf die heutige Fragestellung nicht zulassen.
Das biblische Menschenbild zeigt die Gemeinschaftsbezogenheit und Verwiesenheit auf den Mitmenschen an der elementaren Beziehung von Mann und Frau (Gen 1,27; 2,20-24) auf. Auch hier darf nicht die Einsicht übergangen werden, dass die Bibel von der Alternative heterosexuell - homosexuell im Sinne eines konstitutionellen Gerichtetseins nichts wusste. Biblische Ethik hat sich am Geist und Lebenszeugnis Jesu Christi zu orientieren. Die Grundnorm ist das Liebesgebot.
Die kirchliche Tradition lehnt einhellig und ohne jegliche Kompromissbereitschaft homosexuelle Handlungen ab. Diese Ablehnung geschieht großteils mit Berufung auf das unwandelbare Naturrecht und steht im Kontext einer negativ-pessimistischen Sexualanthropologie, in der Sexualität außerhalb der Fortpflanzungsfunktion nicht positiv gewürdigt werden konnte. Genitale Sexualität ist nur zu rechtfertigen, zu „entschuldigen“ in einer rechtmäßig geschlossenen Ehe bei Ausrichtung auf Zeugung von Nachkommenschaft.
Im Kontext dieser pessimistischen Sexualanthropologie, die menschlicher Sexualität keinen zeugungsunabhängigen positiven Eigenwert zuzugestehen vermag, ist diese Norm, das ausnahmslose Verbot von homosexuellem Verhalten, in sich stimmig und nachvollziehbar.
„Homosexuelle Handlungen sind in keinem Fall zu billigen“ (KKK Nr. 2357)
Die christliche Tradition sieht - ebenso wie die biblischen Schriften - in der Homosexualität ein unsittliches Verhalten, das der Betreffende bei willentlicher Anstrengung jederzeit ändern kann. Das kirchliche Lehramt bleibt dieser Tradition verhaftet. Es unterscheidet inzwischen zwischen der homosexuellen Neigung (Veranlagung) und homosexuellem Verhalten (Persona humana 1975, Schreiben der Glaubenskongregation 1986).
Während die Neigung als Übel („objektiv ungeordnet“) betrachtet wird, bleibt homosexuelles Verhalten Sünde. Da homosexuelle Handlungen „schwer gegen die Keuschheit verstoßen“ (KKK Nr. 2396), sind homosexuelle Menschen zur Enthaltsamkeit verpflichtet. Das Zugeständnis der Tatsächlichkeit konstitutioneller Homosexualität hat keinerlei Konsequenzen für die ethische Bewertung homosexuellen Verhaltens. Eine Diskriminierung aufgrund einer homosexuellen Orientierung wird aber vom kirchlichen Lehramt entschieden abgelehnt (KKK Nr. 2358).
Der ethisch-moraltheologische Diskurs bewegt sich zwischen traditioneller Bewertung und der Suche nach einer Neuinterpretation. Er reicht also von der Position „Verfehlen der Schöpfungsordnung“ (Folge der Erbsünde) bis dahin, Homosexualität als (gleichberechtigte) Variante im Spiel der Schöpfung zu verstehen. Zum Teil wird die Homosexualität als geringeres Übel („minus malum“) oder geringeres Gut („minus bonum“) im Vergleich zur Heterosexualität betrachtet. Je nach theologischer Deutung fällt die ethische Bewertung homosexuellen Verhaltens aus: Homosexuelle Handlungen bzw. homosexuelle Beziehungen sind Sünde bzw. unterliegen denselben ethischen Verhaltenskriterien wie heterosexuelles Verhalten.
Sexualität als Ausdruck personaler Liebe
Wenn Sexualität primär als Kommunikationsgeschehen aufgefasst wird und aufgefasst werden muss, dann kann Homosexualität davon nicht ausgenommen werden. Sie kann dann positiv gewürdigt werden, wenn - in konsequenter Weiterentwicklung der Ehelehre des Zweiten Vatikanischen Konzils (GS Nr. 48-50) - menschlicher Sexualität als Ausdruck personaler Liebe ein Wert und Sinn in sich selbst zugesprochen wird.
Sie braucht zu ihrer Rechtfertigung nicht die Ausrichtung jeglichen ehelichen Aktes auf die Zeugung von Nachkommenschaft (Humane vitae Nr. 11), denn Sexualität behält ihre sittliche Würde, insofern sie die Liebe zwischen Mann und Frau zum Ausdruck bringt, auch wenn der Zweck der Fortpflanzung nicht realisiert werden kann.
Wird der Freundschaft, der partnerschaftlichen Beziehung und der geschlechtlichen Begegnung als körpersprachlichem Ausdruck personaler Liebe und ganzheitlicher Hingabe eine eigene Bedeutung zuerkannt, so kann auch gleichgeschlechtlichen Beziehungen eine ethische Anerkennung nicht verweigert werden. Sie hat ihre sittliche Würde, wenn sie in eine personale Beziehung integriert ist.
Eine wesentliche Dimension - nämlich die Zeugung von Nachkommenschaft - kann zwar im Falle der Homosexualität nicht verwirklicht werden, dennoch können andere wichtige Sinngehalte menschlicher Sexualität erfahren und realisiert werden. Sexualität als Medium der Kommunikation und Ausdrucksgeschehen personaler Liebe behält auch ohne die Ausrichtung auf Fortpflanzung ihren Sinn und ihren Wert. Als personale Liebe hat sie „ihre ontologische Bestimmung in sich selbst.“ (Franz Böckle)
Eine Form des Liebens
Homosexualität ist wie Heterosexualität eine unveränderliche sexuelle Grundorientierung des Menschen. Sie wird nicht frei gewählt, sondern ist tief in die Persönlichkeit eingeschrieben. Wenn Sexualität fundamental zum Menschsein gehört und dem Menschen als elementare Lebenskraft geschenkt ist, wenn Sexualität aufs engste mit Beziehung und Kommunikation verknüpft ist, wenn Sexualität zur Beziehungssprache, zur körpersprachlichen Kommunikation, zur „Sprache der Liebe“ werden kann, wenn Lieben und Geliebtwerden „mit Leib und Seele“ zum Menschsein gehört, wer darf dies Menschen verbieten, die nur gleichgeschlechtlich lieben können?
„Jemand, der homosexuell veranlagt ist, ist grundsätzlich genauso liebesfähig wie jemand, der heterosexuell ist. Die Fähigkeit zu lieben ist nicht abhängig von der sexuellen Orientierung. Ob jemand liebesfähig ist, hängt von anderen Faktoren als der sexuellen Orientierung ab.“ - Wunibald Müller
Gleichgeschlechtliche Liebe kann sich ausdrücken in einer Partnerschaft, die von Treue und Fürsorge geprägt ist. Sie kann aber auch im sozialen, politischen und kirchlichen Engagement zum Ausdruck kommen. Immer geht es darum im Einsatz für jemanden oder für etwas, über sich selbst hinauszuwachsen (Selbsttranszendenz).
Entscheidend ist, wie der Betreffende mit seiner homosexuellen Orientierung umgeht. Da die jeweilige sexuelle Ausrichtung tief in die Psyche der Person eingeschrieben ist, ist es dringend erforderlich, zu der jeweiligen sexuellen Orientierung von innen heraus Ja zu sagen, sie anzunehmen, sie als einen Teil von sich selbst zu akzeptieren.
„Die Annahme seiner selbst“ (Romano Guardini) schließt auch die sexuelle Orientierung mit ein. Die Bejahung der sexuellen Grundneigung ist von grundlegender Bedeutung für die Selbstfindung und Kommunikationsfähigkeit. Sie ist Voraussetzung für eine gelungene Integration in das Gesamtverhalten.
Die sexuelle Orientierung gehört so zentral zur Person, dass es psychisch sehr beeinträchtigend, oft sogar zerstörerisch ist, sie auszublenden und auszuklammern. Wer seine Sexualität, wie auch immer sie geprägt ist, verdrängt, vergibt sich auch die Möglichkeit der Gestaltung und eines verantworteten Umgangs mit ihr.
„Denn erst die Annahme der sexuellen Gefühle schafft die Voraussetzung dafür, reif und verantwortungsvoll mit der eigenen Sexualität umgehen zu können, unabhängig davon, ob sie heterosexuell oder homosexuell ausgerichtet ist.“ - Wunibald Müller
Auseinandersetzung mit der homosexuellen Identität
Wird homosexuelles Verhalten im Kontext einer verbindlichen Beziehung bejaht, dann gelten im wesentlichen dieselben ethischen Handlungsprinzipien wie für Heterosexuelle und heterosexuelle Beziehungen: Respektierung der Personwürde, Wahrhaftigkeit in der Körpersprache, Verbindlichkeit und Verantwortung. Homosexuelle Beziehungen sind danach zu beurteilen, ob sie verantwortlicher Ausdruck von Liebe sind.
„Auch gleichgeschlechtliche Beziehungen verlangen Arbeit und Pflege. Auch gleichgeschlechtliche Liebe muss zeitweise erlitten und erstritten werden, auch hier stellt sich die Frage der menschlichen Treue.“ -Kurt Loewit
Monogamie und partnerschaftliche Treue sind eben auch Kulturleistungen.
Homosexuelle gehören als Minderheit einer Gruppe an, die von massiven Vorurteilsstrukturen in ihren Lebensmöglichkeiten stark eingeschränkt ist. Aus sozialethischer Perspektive ist daher jegliche Stigmatisierung und Diskriminierung strikt abzulehnen.
In der Nachfolge Jesu Christi hat die Kirche Anwalt diskriminierter Minderheiten - also auch homosexueller Frauen und Männer - zu sein und muss der Pathologisierung, Ausgrenzung und Diskriminierung entschieden entgegentreten. Auf keinen Fall dürfen diese durch die Kirche noch verstärkt werden. Homosexuelle Menschen dürfen in Gesellschaft und Kirche nicht als Bürger bzw. Christen zweiter Klasse behandelt werden.
Die grundlegende, durch rechtliche und soziale Privilegien ausgedrückte Option von Gesellschaft und Kirche für die heterosexuelle Liebe, die die Lebensform familiärer Gemeinschaft in sich einschließt, darf keine Diskriminierung anderer Lebensformen darstellen. Die Bezeichnung „Ehe“ sollte heterosexuellen Verbindungen vorbehalten sein, da Ehe Partnerschaft und (potentielle) Elternschaft einschließt.
Den Menschen sehen
Seelsorge für und mit homosexuellen Menschen zielt auf „Verwirklichung des Lebens aus der Kraft des Glaubens“ (Hermann Stenger). Sie wird den konkreten Menschen sehen und ihm mit Respekt begegnen, auch dann, wenn er nicht den Normen der Kirche(n) entsprechend lebt.
Sie hat dafür zu sorgen, alles zu vermeiden, was es homosexuellen Menschen erschwert, zu ihren homosexuellen Gefühlen zu stehen. Dabei darf der konkrete Mensch nicht auf seine sexuelle Orientierung reduziert werden. Homosexuelle Menschen bestehen nicht nur aus ihrer Homosexualität. Zuerst gilt es den Menschen zu sehen und nicht die sexuelle Identität und deren sexuelle Ausdrucksweisen.
Seelsorge wird ermöglichen, dass Kirche auch für homosexuelle Menschen als spirituelle Heimat erfahrbar ist bzw. als solche wieder erfahrbar wird. Sie wird darüber nachdenken, ob eine kirchliche Segnung christlicher homosexueller Paare ihre verbindliche Beziehung nicht stabilisieren könnte.
Pastorale Beratung und Begleitung hilft den Betroffenen bei ihrer Identitätsfindung und unter Umständen bei der Gestaltung einer Partnerschaft. Der persönliche und zum Teil soziale Coming-out-Prozess ist zur positiven Identitätsfindung wichtig und braucht eine grundsätzlich solidarische Unterstützung. Seelsorge hat aber auch für den Abbau von Vorurteilen, Diffamierungen und Diskriminierungen einzutreten.
Die Kirche selbst hat in ihrem pastoralen Handeln und in ihrer sittlichen Verkündigung eine Weise des Umgangs mit Homosexualität und homosexuellen Menschen zu finden und zu propagieren, die den christlichen Werten nach vorurteilsfreier Begegnung und grundlegender Akzeptanz entspricht und nicht länger einer offenen oder subtilen Diffamierung dieser Personengruppe Vorschub leistet.
Jakob Patsch