Wissenschaftliche Erkenntnisse und römische Position
Soziologische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse
In Deutschland gibt es detailliertere Zahlen als in Österreich, aber sie dürften hierzulande nicht grundlegend anders aussehen. Eine Umfrage aus Nordrhein-Westfalen belegt bereits im Jahr 2000 (Oppermann u.a.) den dramatischen Gesinnungswandel der Menschen hin zur Akzeptanz homosexueller Personen ebenso wie die Scheu, mit ihnen über ihre sexuelle Orientierung zu reden: Zwar ist mittlerweile die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung davon überzeugt, Homosexuelle seien Menschen wie alle anderen auch (rund 90 % Zustimmung – in Städten wie Dörfern, unter KatholikInnen wie unter ProtestantInnen oder Konfessionslosen). Trotzdem haben rund 63 % der Menschen mit Homosexuellen noch nie über deren Privatleben geredet und scheuen sich auch davor – eine Tatsache, die sie nach eigenen Angaben nicht erklären können.
Eine wachsende Mehrheit der Menschen bejaht seit Mitte der 90er Jahre die Möglichkeit rechtlich geschützter gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften. Das Meinungsforschungsinstitut forsa (Deutschland) stellt hierzu kommentierend fest: „Kaum ein Kerninhalt konservativen Denkens bröckelt so schnell wie die Ablehnung der Ehe für Homosexuelle.“ Die Wahrnehmung homosexueller Personen hat sich erdrutschartig gewandelt.
Zu diesem schnellen und eindeutigen Wandel haben wissenschaftliche Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte einen wesentlichen Beitrag geleistet:
- Die Soziologie hat einen erstaunlich konstanten Anteil homosexueller Personen zwischen 5 und 10% in allen untersuchten Gesellschaften nachgewiesen – unabhängig von deren Kultur, Religion oder Entwicklungsgrad.
- Die Zwillingsforschung zeigt, dass im Falle eineiiger Zwillinge mit 50% Wahrscheinlichkeit beide homosexuell sind, wenn einer von beiden dies ist – ein Zeichen dafür, dass Vererbung eine große, aber keine ausschließliche Rolle für die sexuelle Orientierung spielt.
- Die Genforschung hat auf dem menschlichen X-Chromosom mindestens ein für Homosexualität mitverantwortliches Gen zweifelsfrei lokalisieren können, das durch seine Eintragung auf der weltweit gültigen Genkarte als GAY-1-Gen anerkannt worden ist.
- Die Sexualmedizin hat bewiesen, dass eine verringerte Ausschüttung von Testosteron in der zweiten Schwangerschaftshälfte die homosexuelle Orientierung männlicher Föten bewirken kann.
- Die Verhaltensforschung kennt heute bereits 450 Säugetierarten in freier Wildbahn mit eindeutig homosexuellen Verhaltensweisen.
- Die Hirnforschung belegt, dass homosexuelle Personen andere Sexualduftstoffe vorziehen als heterosexuell orientierte.
All diese Beobachtungen legen es mit erdrückender Wahrscheinlichkeit nahe, dass die sexuelle Orientierung eines Menschen spätestens im zweiten Lebensjahr festgelegt ist und danach nicht mehr umgekehrt werden kann.
Die römische Position
Nicht alle, aber doch einige der eben genannten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse waren bereits 1986 bekannt, als die vatikanische Kongregation für die Glaubenslehre am 30.10.86 das bis heute wichtigste Dokument zur Seelsorge an homosexuellen Personen vorlegte.
Schon eingangs betont das Dokument, dass die Kirche diese naturwissenschaftlichen Erkenntnisse respektiere und die Autonomie naturwissenschaftlichen Forschens anerkenne, dass ethische Einsichten freilich über die pure Feststellung naturwissenschaftlicher Fakten hinausgehen müssten (Nr. 2).
Es wird von „homosexueller Veranlagung“ und „Neigung“ sowie von „homosexuellen Personen“ gesprochen – ein deutlicher Hinweis darauf, dass Homosexualität nicht als eine frei wählbare Praxis, sondern als eine vorgegebene und festgelegte Konstitution von Menschen gesehen wird.
Im Folgenden geht es der Glaubenskongregation um drei zentrale Anliegen:
- Die bedingungslose und umfassende Achtung homosexueller Menschen in Kirche und Gesellschaft: Jegliche Form der Diskriminierung und erst recht der Gewalt gegen homosexuelle Menschen wird strikt abgelehnt (Nr. 10).
Vielmehr ermutigt die Glaubenskongregation die Bischöfe zu pastoralen Programmen, die homosexuelle Personen „auf allen Ebenen ihres geistlichen Lebens fördern“ – durch Spendung der Sakramente, Gebet, Zeugnis, Beratung und individuelle Mitsorge (Nr. 15). Homosexuelle Personen sollen nicht in die Isolation getrieben, sondern in die Pfarrgemeinden integriert werden (Nr. 15).
Ihre Familien sollen darin unterstützt werden, sich mit dem Phänomen der Homosexualität auseinanderzusetzen (Nr. 17).
- Ziel all dieser pastoralen Anstrengungen ist es, so das Schreiben der Glaubenskongregation, dass homosexuelle Personen ihre sexuelle Orientierung in eine reife und integre („keusche“) Persönlichkeit integrieren können und so auf ihre Weise die Nachfolge Christi verwirklichen (Nr. 12-14).
Damit hebt sich die katholische Position signifikant von jener der Freikirchen ab, die in den USA mit groß angelegten Programmen versuchen, Homosexuelle zu „transformieren“ und zu einem heterosexuellen Lebensstil zu motivieren – ein Versuch, der in den meisten Fällen tragisch scheitert und, sofern tatsächlich eine homosexuelle Orientierung vorliegt, auch scheitern muss (laut einer Umfrage von Gallup in den Jahren 2004 und 2006 sind rund die Hälfte aller US-BürgerInnen überzeugt, Homosexualität sei ausschließlich eine Sache der Erziehung!). Hier nimmt die katholische, naturrechtlich geprägte Argumentation die Naturwissenschaften ernst und versagt sich jedes Plädoyer für „Transformationsprogramme“!
Homosexuelle sollen ihre Orientierung annehmen und als Teil ihrer geschöpflichen Konstitution bejahen. Sie dabei zu unterstützen ist eine wichtige seelsorgliche Aufgabe jeder Pfarrgemeinde.
- Die dritte römische Positionsbestimmung, die Ablehnung homosexueller Praktiken
(Nr. 3), muss ebenfalls genannt werden. Da homosexuelle Akte „ihrer wesentlichen und unerlässlichen Zielbestimmtheit beraubt“ sind, nämlich auf die Zeugung von Nachkommen ausgerichtet zu sein, lehnt die Glaubenskongregation sie ab. Bis heute ist das die umstrittenste Aussage des römischen Lehramts.