Witzany Siegi, Statement zu Dr. Johann Gruber
Schon vor Jahren bin ich auf einen Ausspruch gestoßen, der mir in diesem Zusammenhang oft in den Sinn kommt:
War brings out the worst in some, and the best in others.
Der Krieg - und ich ergänze diktatorische Systeme - bringen in den einen das Schlechteste hervor, und in anderen das Beste.
Das gibt noch keine Antwort auf die Frage nach dem Warum.
In Vorbereitung des heutigen Tages und des Zusammentreffens mit Ihnen habe ich mir folgende Frage gestellt:
Woraus speist sich Johann Grubers aufrechte, couragierte und unerschrockene Haltung seiner Zeit, dem Leben und den Menschen gegenüber? Ich markiere die erste Silbe des Wortes HALTung und es steht vor mir der Halt, den ich zu einer Wortfamilie ausbauen kann: aufhalten, behalten, zurückhalten, inne halten, fest halten, Haltepunkt ....
Wenn ich mir die Familiensituation des Buben Johann Gruber Ende des 19. Jh. in Erinnerung rufe, so sehe ich in der kleinhäuslerischen, bescheidenen Lebensform Geborgenheit und familiäre Wärme. Wir wissen aus der Psychologie, welch langfristig stabilisierende Wirkung diese positiven kindlichen Erfahrungen haben. Der Vater übt sein Schusterhandwerk daheim aus, er ist also jederzeit für die Kinder präsent.
Umso tragischer der frühe Tod beider Eltern, die innerhalb eines halben Jahres dahingerafft werden, sodass vier Kinder als Waisen dastehen. Johann Gruber ist mit 10 Jahren der Älteste und kümmert sich von da an sein Leben lang um das Wohl seiner jüngeren Geschwister. Dieses Erlebnis wird als Schlüssel gesehen für Grubers generell sorgende Haltung jungen Menschen gegenüber und speziell für solche in prekären Lebenssituationen.
Der Verlust der Eltern führt ganz offensichtlich nicht zu einer Traumatisierung, nicht zu Verhärtung, Verbitterung und Halt-losigkeit oder gar zum Scheitern am Leben, sondern zu einem Halten und Gehalten Werden.
Es ist erwähnenswert, dass sich für sämtliche Geschwister gute Pflegefamilien finden.
Der intellektuell begabte Johann Gruber erhält über Vermittlung des Grieskirchner Heimatpfarrers die Gelegenheit, 1902 am Bischöflichen Knabenseminar Petrinum in Linz Aufnahme zu finden. Er bekommt hier die Chance, sich in der Geborgenheit der Gemeinschaft - auch hier sehe ich wieder eine Struktur, die Halt gibt - eine fundierte Bildung anzueignen, inmitten der Bubenschar des Internates gut versorgt zu sein, Freundschaften zu schließen, von wohlmeinenden Erziehern und Lehrer gefördert zu werden und einen Katalog an Werten kennen zu lernen, die wiederum Halt geben.
Nach dem Besuch des Priesterseminars in Linz, der Priesterweihe, Erfahrungen als Kaplan und Erzieher im Schülerheim Salesianum, als Lehrer im Katholischen Waisenhaus wird ihm schließlich die wunderbare Chance geboten, an der Universität Wien Geschichte und Geografie für das Lehramt zu studieren. Was er in der Hauptstadt Wien vorfindet, führt zu nachhaltigen Prägungen. Die beeindruckenden Sozialeinrichtungen der Roten Stadtregierung und der kommunale Wohnbau, die vor allem den Arbeitern zugute kommt, das blühende Geistes- und Kulturleben, die zahlreichen Universitätsprofessoren, die sich der Moderne verpflichtet fühlen, das Kennenlernen pädagogischer Neuerungen, die auf Eigenverantwortung und Mündigkeit des Einzelnen abzielen. Für den interessierten jungen Priester aus der Provinz muss sich eine ganz neue Welt aufgetan haben. Er dürfte alles wie ein Schwamm aufgesogen haben.
Nach der Promotion 1923 zurück in Linz weht ihm ein anderer Wind entgegen. Seine innovativen pädagogischen Ideen stoßen bei Vorgesetzten auf wenig Gegenliebe, er wird mit seinem geradlinigen Verhalten, seiner Kompromisslosigkeit immer wieder Probleme bekommen, im Bischofshof angeschwärzt werden, Verweise und Ermahnungen erhalten, die ursprünglich geplante Nachfolge in der Leitung des Katholischen Waisenhauses wird sich zerschlagen. Wer mit den Buben herumalbert und mit ihnen Fußball spielt, hält für die damalige Zeit wohl nicht die gebührende Distanz zu ihnen.
Auch als engagiertem Direktor der Linzer Blindenanstalt werden ihm Schwierigkeiten mit seinem Umfeld nicht erspart bleiben. Seinen reformpädagogischen Ansätzen, dem liebevoll-freundschaftlichen Umgang mit den blinden jungen Menschen, seinen Bemühungen um deren gute Versorgung begegnen die Kreuzschwestern, die in der Institution höchst sparsam die Wirtschaft führen und auch für erzieherische Belange zuständig sind, mit größter Skepsis und sogar mit sittlichen Bedenken.
Wer Haltung zeigt, eckt an. Wer seiner Zeit voraus ist, wird oft als Bedrohung gesehen. Gruber ist keiner, der sich biegt und verdreht.
Bei seinen Schützlingen, Zöglingen, Schülern und den ihm anvertrauten jungen Menschen erfreut sich Gruber jedoch größter Beliebtheit und tiefster Bewunderung. Noch heute geraten alte Herrschaften, die Gruber in den 30er Jahren als Lehrer für Geschichte, Geografie und Religion an Linzer Gymnasien genossen, ins Schwärmen, wenn sie von seinem Charisma als Mensch und Lehrer sprechen.
Für mich gibt es keinen Zweifel, dass Gruber Kraft aus der Tatsache schöpfte, ständig von jungen Menschen umgeben zu sein und ihnen Wesentliches fürs Leben mitzugeben.
Ich weiß, wovon ich spreche. Wenn ich die Ärgernisse von Lärm, pubertärer Widerständigkeit, endlosen Heftkorrekturen, mangelnder öffentlicher Wertschätzung etc. abziehe, bleibt in jedem Fall ein überaus sinnstiftender Beruf übrig. Ich beobachte gerade in meiner konkreten Berufssituation, wie sich ehemals zerzauste Räupchen, die nägelbeißend und unruhig auf den Sesseln wetzend vor mir gesessen sind, in wache und kritische 14-jährige Schmetterlinge mit passablen Umgangsformen verwandeln. Es tut gut, an diesem Prozess beteiligt zu sein.
Gruber muss die Förderung junger Menschen, vielleicht besonders solcher, die erschwerten Bedingungen ausgesetzt waren, aus eigener Erfahrung heraus als Mission empfunden haben.
Sein weiter geistiger Horizont zeigt sich auch an den Fremdsprachenkenntnissen in Englisch, Französisch und Italienisch, die er sich aneignet und die zu Reisen innerhalb Europas führen. Im KZ Gusen ermöglichen sie später die Kontaktaufnahme zu Kameraden aus ganz Europa und ermutigenden Zuspruch.
Überhaupt verfügt er über vielfältige Kontakte, die über den priesterlichen Bereich hinausgehen. Dass Gruber unterschiedlichen Weltanschauungen gegenüber keinerlei Berührungsängste kennt, zeigt während seiner Inhaftierung im KZ Gusen von 1940 - 44 sein offenes Zugehen auf Spanische Republikaner ebenso wie auf katholische Polen und die jungen Linken aus dem französischen und belgischen Widerstand. Er sieht den Menschen in Not und handelt vorbehaltlos, unerschrocken und ohne sich von der SS einschüchtern zu lassen.
Trotz der Euphorie vieler Österreicher über den sog. „Anschluss“ im Frühling 1938 behält er sich ein klares Urteil über die politischen Verhältnisse und sieht die drohende Gefahr der neuen Machthaber. Er weiß auch umgeben von der Verblendung des Nationalsozialismus sehr genau, was Recht und Unrecht ist, bewahrt sich ein kritisches Gewissen und handelt entsprechend.
Auch wenn über seine persönliche Spiritualität wenig bekannt ist und er seinen Glauben nie offenkundig zu Markte getragen hat, kann man ohne Zweifel von seiner religiösen Verwurzelung als Kraftquelle ausgehen. Immerhin ist sein ganzes Tun und Handeln zutiefst christlich und der Humanität verpflichtet.
Er findet hier Halt, sämtliche Widrigkeiten durchzustehen:
die Denunzierung als vermeintlicher Sittenstrolch, den skandalösen Schauprozess, die Verleumdung und Rufschädigung seiner Person, die ungerechte Verurteilung, die Inhaftierungen in der Strafanstalt Garsten, im KZ Dachau und im KZ Gusen.
Selbst im Martyrium der Kerkerhaft im Gusener Bunker, an dem Sie heute vorbeigegangen sind, nach Auffliegen seiner Hilfstätigkeit für die Kameraden, malträtiert, verschwollen, gekrümmt am Boden im eigenen Blut liegend, schließlich aufgehängt, offensichtlich sogar mit dem Kopf nach unten...
Er verrät niemand, beschämt seine Peiniger, bewahrt menschliche Würde und Haltung.
Es ist der 7. April, der Karfreitag des Jahres 1944.